Wissen
Multiple Sklerose – was ist das?
Wie wird Multiple Sklerose diagnostiziert?
Symptome und Krankheitsverlauf der MS
Welche Möglichkeiten zur Behandlung gibt es?
MS-Behandlung: damals – heute – morgen
Tipps für das Gespräch mit Deinem Arzt
Können Kinder auch MS bekommen?
MS-Symptome im Detail: Hirnatrophie
MS-Symptome im Detail: Probleme mit der Blasen- und Darmkontrolle
MS-Symptome im Detail: Fatigue
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Prof. Penner: Wenig Routine – Erfolgsrezept für unser Gehirn
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Prof. Ziemssen: Brain Health – Zeit ist kostbar
Dr. Bellmann-Strobl: Therapiealltag auf dem Prüfstand
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Keine Symptome, aber aktive MS?
Warum Verlaufskontrollen so wichtig sind
Wozu zur Verlaufskontrolle, wenn es mir doch gut geht? Das fragten wir den Neurologen Dr. Patrick Thilmann und die MS- Nurse Isabel Knecht. Die beiden MS-Expert*innen arbeiten schon seit vielen Jahren als Team in einer Praxis und erklären, was es mit der versteckten Krankheitsaktivität auf sich hat, was bei der Kontrolluntersuchung eigentlich gemacht wird und wie Du Dich auf den Termin vorbereiten kannst.2
In seiner Mannheimer Praxis bittet Dr. Thilmann seine MS-Patient*innen einmal im Jahr zur Verlaufskontrolle – sogar dann, wenn sie aktuell gar keine Beschwerden haben. Und warum? „Weil es eben auch eine versteckte Krankheitsaktivität gibt, die den Patient*innen nicht immer sofort bewusst ist“, erklärt der Neurologe.
Mit der Verlaufskontrolle soll überprüft werden, wie aktiv die MS ist und ob die aktuelle medikamentöse Behandlung noch ausreicht. Manchmal bemerken die Erkrankten nämlich nicht sofort, dass sie ein neues Symptom haben oder dass sich ein bestehendes verschlechtert hat. So nehme z. B. die Gehstrecke oder das Denkvermögen nur schleichend ab, wodurch vielen eine Verschlechterung lange Zeit gar nicht auffalle.
„Ich habe eine Patientin, die jahrelang tatsächlich körperlich kaum Beschwerden, aber kognitiv irgendwann Einschränkungen hatte“, erzählt Herr Dr. Thilmann. „Die Patientin hat Probleme mit Konzentration, Aufmerksamkeit und Arbeitsgeschwindigkeit.“ Wie sich bei seinen Untersuchungen herausstellte, waren aktive Läsionen im Gehirn die Ursache, sodass verschiedene Hirnzentren schließlich nicht mehr richtig miteinander kommunizierten.
Erfahrungsgemäß sei es oft, dass Erkrankte zwar neue Beschwerden hätten, ihnen aber keine größere Bedeutung beimessen würden, weil diese oft von selbst wieder verschwänden.
Worauf sollte man als MS-Patient*in achten?
Auf die Frage, worauf man als MS-Patient*in denn überhaupt achten solle, erläutert Dr. Thilmann: „Ein Taubheitsgefühl ist das häufigste Symptom, das die Patient*innen bei der Multiplen Sklerose haben.“ Typisch seien außerdem Sehstörungen und Lähmungserscheinungen. Die Ausfallerscheinungen könnten aber ganz unterschiedlicher Natur sein, nicht umsonst hieße es ja „die Krankheit der 1.000 Gesichter“.
Es gibt auch die versteckte Krankheitsaktivität ohne Symptome und ohne Schübe.
Es gebe auch Beschwerden, die Betroffene oft nicht direkt mit ihrer MS in Verbindung brächten, etwa Blasenfunktionsstörungen: „Gerade bei Frauen gibt es ja vielerlei Ursachen für Blasenfunktionsstörungen: Wenn man drei Kinder geboren hat, hat man das Gefühl, das ist ganz normal – aber vielleicht gibt es doch einen Zusammenhang mit der MS.“
In jedem Fall solle man sich in der Praxis melden, wenn ein neues Symptom länger als 24 Stunden anhalte, denn das könnte auf einen Schub hindeuten.
Es gibt aber eben auch die versteckte Krankheitsaktivität ohne Symptome und ohne Schübe. Deshalb seien regelmäßige Verlaufskontrollen umso wichtiger, betont Dr. Thilmann. „Wir haben häufig im Verlauf neue Auffälligkeiten in den MRT-Aufnahmen, ohne dass der Patient oder die Patientin Beschwerden hat.“
Aus diesem Grund sei die Bildgebung mit MRT (Magnetresonanztomografie) auch das Fundament jeder jährlichen Kontrolluntersuchung. Außerdem empfiehlt der Neurologe dafür noch weitere Untersuchungen:
- Körperliche Untersuchung
- Ermittlung des aktuellen Behinderungsgrads auf der EDSS-Skala (Expanded Disability Status Scale)
- Überprüfung der relevanten Blutwerte je nach medikamentöser Therapie sowie z. B. auch der Vitamin-D-Spiegel
- Messung der Nervenleitungsgeschwindigkeit
- Geistige und körperliche Funktionstests, z. B. Gehstrecken-, Sprach- und Konzentrationstests
Wirklich unangenehm sei keine dieser Untersuchungen, weiß Frau Knecht zu berichten. Bei der Messung der sensiblen evozierten Potenziale wird mit kleinen feinen Akupunkturnadeln und Strom die Leitfähigkeit und somit auch die Funktionsfähigkeit der Nervenbahnen gemessen. Manche Patient*innen haben eine leichte Scheu gegenüber den Akupunkturnadeln, jedoch sind 95 % der Patient* innen hinterher erstaunt, dass sie von den kleinen „Piksern“ fast gar nichts gespürt haben.
Was passiert, wenn jemand nicht zur Verlaufskontrolle kommt?
Dann besteht die Gefahr, dass die MS im Hintergrund aktiv sei und die Behandlung nicht ausreiche – mit der Folge, dass neue dauerhafte Behinderungen entstünden, die möglicherweise den Alltag erschweren könnten, warnt Dr. Thilmann.
Lieber einmal zu viel zur Kontrolle kommen als einmal zu wenig.
Denn nur wenn man diese frühzeitig erkenne, könne man auch frühzeitig (be-)handeln und damit bleibenden Schäden entgegensteuern. Betroffene, die sich wegen einer möglichen Therapieänderung Sorgen machen, beruhigt Frau Knecht mit einem positiven Blick nach vorne: „Wenn wir jetzt sehen, dass etwas ist, haben wir die Chance, auf ein passenderes Medikament umzustellen!“
Als Vorbereitung für den Kontrolltermin empfiehlt die MS-Nurse, sich vorab alle Fragen zu notieren. Ein klassisches Symptomtagebuch oder entsprechende Apps könnten Betroffenen helfen, ihre Symptome im Zeitverlauf zu dokumentieren. Für den Termin sollten alle Unterlagen mitgebracht werden, insbesondere MRT-Befunde einschließlich CDs, Krankenhausberichte zur Diagnosestellung mit Liquor-Befund und aktuelle Laborwerte.
Frau Knecht rät außerdem, auch mal seine*n Partner*in oder die engste Bezugsperson aus der Familie mitzubringen: „Leider gibt es noch viele Fehlinformationen zu MS, daher kann es nach der Diagnosestellung zu Missverständnissen in der Familie oder der Partnerschaft kommen. Dann sage ich immer: „Wenn es für Sie in Ordnung ist, bringen Sie den*die Partner*in oder ein Familienmitglied zur MS-Sprechstunde mit. Dort haben wir Zeit und Raum, gemeinsam Ängste und Vorurteile aus dem Weg zu räumen und der Diagnose ihren Schrecken zu nehmen.
Aber auch außerhalb der Routinekontrollen sollten Betroffene keine Scheu haben, sich an die Praxis zu wenden. „Wir raten Patient*innen gerade am Anfang, dass sie lieber einmal zu viel kommen als einmal zu wenig“, so Dr. Thilmann. Gerade Neuerkrankte könnten die Symptome häufig noch nicht richtig einordnen. Er erzählt von einer sorgenvollen Patientin, die befürchtete, sie hätte in den letzten Monaten mehrere Schübe in Form einer kribbelnden Kopfhaut gehabt – was aber kein typisches MS-Symptom ist. „Im besten Fall können wir dann Entwarnung geben und sie beruhigen“, erklärt der Neurologe.
ZU DEN EXPERT*INNEN:
Dr. med. Patrick Thilmann ist Neurologe mit einer Schwerpunktpraxis in Mannheim zu MS, Kopfschmerzen, Migräne und Parkinson. Er hält Vorträge zu MS und Kopfschmerz und ist auch als Kopfschmerzexperte der Deutschen Migräneund Kopfschmerzgesellschaft e. V. (DMKG) aktiv.
Isabel Knecht ist medizinische Fachangestellte und erfahrene Trainerin für MS-Nurses. Seit rund fünf Jahren führt sie ihre eigene MS-Sprechstunde in Dr. Thilmanns Praxis.