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Dr. Bellmann-Strobl: Therapiealltag auf dem Prüfstand

Dr. Bellmann-Strobl: Therapiealltag auf dem Prüfstand

Dr. Judith Bellmann-Strobl

Neben den sogenannten kontrollierten klinischen Medikamentenstudien zur Zulassung eines Arzneimittels, die genau vorgeben, welche Personen an der Prüfung teilnehmen dürfen, spielen auch Real-World-Studien eine zunehmende Rolle in der Medizin. Sie geben Aufschluss über die Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten im Behandlungsalltag, also konkret unter den Bedingungen, unter denen die jeweiligen Arzneimittel verordnet und von den Patienten eingenommen werden. Warum das wichtig ist, erläutert Frau Dr. Bellmann-Strobl von der Hochschulambulanz für Neuroimmunologie an der Berliner Charité in einem Interview.

(Dieses Interview erschien in der MS persönlich, der MS-Begleiter Zeitschrift.)

Zur Person:

Dr. Judith Bellmann-Strobl ist Oberärztin an der Hochschulambulanz für Neuroimmunologie und leitet die multidisziplinäre Hochschulambulanz des Experimentellen und klinischen Research Center, einer gemeinsamen Einrichtung der Charité und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin. Ihre wissenschaftlichen und medizinischen Schwerpunkte sind die Multiple Sklerose und andere neuroimmunologische Erkrankungen.

MS PERSÖNLICH: Frau Dr. Bellmann-Strobl, was ist bei Medikamentenprüfungen gemeint, wenn man von Real-World-Studien spricht?

DR. BELLMANN-STROBL: Die Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten wird vorrangig in den kontrollierten klinischen Studien geprüft, die zugleich auch die Voraussetzung für die Zulassung des jeweiligen Medikamentes darstellen. Diese Studien sind sehr genau reglementiert. Es dürfen nur Patienten teilnehmen, auf die bestimmte Merkmale zutreffen, die z. B. eine festgesetzte Erkrankungsdauer und -ausprägung haben, oder auch einer bestimmten Altersgruppe angehören oder festgesetzte Begleiterkrankungen aufweisen. Mit diesen Studien werden wichtige und für die Zulassung notwendige Daten erzeugt. Dabei wird aber häufig nicht das reale Bild der Behandlung im Alltag widergespiegelt. Dafür gibt es die sogenannten Real-World-Studien. Diese untersuchen die Anwendung der Arzneimittel im Behandlungsalltag, ohne dabei jedoch die Teilnahme bestimmter Patientengruppen einzuschränken. Real-World-Studien werden deshalb auch als Beobachtungsstudien bezeichnet.

«Die Erfassung in einer Beobachtungsstudie ist für den Patienten mit keinerlei Risiken verbunden»

MS PERSÖNLICH: Was geschieht in diesen Beobachtungsstudien?

DR. BELLMANN-STROBL: In den Beobachtungsstudien oder auch Registerstudien werden eine Vielzahl an Daten zum Krankheitsverlauf der Patientengruppen gesammelt, also beispielsweise zu Patienten mit Multipler Sklerose. Auf diese Daten kann man dann zurückgreifen, wenn eine bestimmte Fragestellung zum Beispiel zur Wirkung eines Medikamentes im Behandlungsalltag überprüft werden soll. Man wird dann eine Analyse des Krankheits- und des Therapieverlaufs bei den Patienten der Registerstudie vornehmen, die dieses Medikament eingenommen haben.

MS PERSÖNLICH: Warum sind solche Real-World-Studien wichtig?

DR. BELLMANN-STROBL: Die kontrollierten klinischen Studien sind sehr wichtig, damit wir verstehen, wie ein bestimmtes Medikament wirkt und welche Nebenwirkungen es möglicherweise hat. Diese Daten werden allerdings in einer quasi künstlich vorgegebenen speziellen Situation erhoben, die nicht die Behandlungswirklichkeit und das Vorgehen in der täglichen Praxis widerspiegelt. Denn wir behandeln ja im Praxisalltag keineswegs nur beispielsweise junge, fitte Patienten ohne Begleiterkrankung, wie sie oft in klinischen Studien eingeschlossen werden. Im Praxisalltag verordnen wir hingegen oft Medikamente an durchaus ältere Patienten und an solche mit Begleiterkrankungen wie einem Diabetes, einem Bluthochdruck oder einer rheumatischen Erkrankung.

«Die Ergebnisse von Real-World-Studien können die Therapiewahl durchaus beeinflussen»

Es werden außerdem Patienten behandelt, die schon Vorerkrankungen hatten, die zum Beispiel einen Herzinfarkt hinter sich haben und die von kontrollierten klinischen Studien meist ausgeschlossen werden. Und last but not least müssen wir sehr oft Patienten behandeln, bei denen bereits eine Therapie mit einem anderen MS-Therapeutikum erfolgt ist, dieses aber vielleicht nicht mehr ausreichend wirksam ist oder bei dem Probleme mit der Verträglichkeit aufgetreten sind. Auch solche Patienten werden häufig von der Teilnahme an einer kontrollierten Studie ausgeschlossen. Aber genau diese Patienten können wir in eine Beobachtungsstudie einschließen. Die dabei erhobenen Daten, wie solche Patienten z.B. auf ein bestimmtes Medikament reagieren, können für unsere weitere Therapieplanung entscheidend sein.

MS PERSÖNLICH: Inwiefern profitieren die Patienten von den Real-World-Studien?

DR. BELLMANN-STROBL: Von den Ergebnissen der Real-World-Studien profitieren die Patienten insbesondere, weil sich klarer darstellt, wie ein bestimmtes Medikament unter Alltagsbedingungen wirkt, welche Nebenwirkungen es haben kann und wie diese im Allgemeinen von den Patienten, die ja möglicherweise eine Begleiterkrankung aufweisen und auch andere Arzneimittel einnehmen müssen, erlebt werden. Oder wie zufrieden sie insgesamt mit der jeweiligen Behandlung sind, eventuell auch im Vergleich zu anderen Therapieoptionen. Die Daten können dazu beitragen, dass wir in der täglichen Praxis bei einem bestimmten Patienten direkt ein Medikament wählen, das in seiner persönlichen Lebenssituation besonders effektiv und/oder besonders gut verträglich ist oder sehr einfach in der Handhabung.

MS PERSÖNLICH: Geht man als Patient ein Risiko ein, wenn man an einer Registerstudie teilnimmt?

DR. BELLMANN-STROBL: Nein, das ist nicht der Fall. Denn man wird ja mit einem offiziell zugelassenen Medikament behandelt, dessen Sicherheit und Wirksamkeit in Zulassungsstudien geprüft und nachgewiesen wurde. In den Beobachtungsund Registerstudien wird lediglich erfasst, wie die Patienten auf eine bestimmte Behandlung, die ihnen auf dem Boden der klinischen Daten verordnet wurde, reagieren. Aus den Studienergebnissen entwickelt sich in aller Regel kein Handlungsbedarf für den Einzelfall. Allerdings können die Daten insgesamt die Therapiestrategien bei der MS verändern, zum Beispiel wenn sich herausstellen sollte, dass eine bestimmte Therapie von den Patienten besonders gut oder möglicherweise auch besonders schlecht akzeptiert wird.

MS PERSÖNLICH: Frau Dr. Bellmann-Strobl, haben Sie vielen Dank für das Interview.