Die Multiple Sklerose (MS) wird heutzutage mit krankheitsmodifizierenden Medikamenten behandelt, also mit Arzneimitteln, die den Krankheitsprozess positiv beeinflussen und die MS zur Ruhe bringen können. Diese Behandlungsmöglichkeiten haben sich in den vergangenen Jahren erheblich erweitert. So sind inzwischen verschiedene Wirkstoffe verfügbar, die bei der MS gezielt in den Krankheitsprozess eingreifen können. Mit einem besseren Verständnis für die Entstehung und die biologischen Prozesse steigt auch die Wahrscheinlichkeit, effektivere MS-Therapien zu entwickeln, die den Symptomen entgegenwirken und Menschen mit MS eine sehr gute Lebensqualität ermöglichen.

Wie wurde MS früher behandelt?

Die heute üblichen krankheitsmodifizierenden Therapien für MS können das Auftreten akuter Krankheitsschübe reduzieren und der Entwicklung von Behinderungen entgegenwirken. Das war nicht immer so. Abgesehen von der Behandlung des akuten Schubs, bei dem früher wie auch heute vor allem Kortisonpräparate zum Einsatz kommen, gab es bis in die frühen 1990er-Jahre keine spezifischen Medikamente gegen MS.1

Als Durchbruch wurde daher die Entwicklung der Beta-Interferone gefeiert, mit deren Hilfe sich erstmals Einfluss auf den Krankheitsverlauf bei der schubförmigen MS nehmen ließ. Bereits 1957 als körpereigene Wirkstoffe entdeckt, können Beta-Interferone seit ihrer Zulassung in den USA im Jahr 1993 zur Behandlung von MS eingesetzt werden. Sie senken die Rate akuter Schübe und reduzieren die in der Magnetresonanztomografie (MRT) im Gehirn erkennbare Bildung neuer Läsionen.2  Im Jahr 1998 wurde Beta-Interferon auch hierzulande zur Therapie der MS zugelassen, nachdem eine Studie aus neun Ländern auf drei Kontinenten gezeigt hatte, dass der Wirkstoff auch die Krankheitsaktivität und -belastung reduzieren3 sowie das Auftreten von Behinderungen verzögern kann.4 Seine Aufgabe ist die Immunmodulation, also eine günstige Beeinflussung des Immunsystems.

Bis zum Jahr 2002 haben sich die Behandlungsmöglichkeiten durch verschiedene Beta-Interferon-Präparate erweitert.2 Außerdem kam die Option hinzu, die MS mit dem Wirkstoff Glatirameracetat zu behandeln, einem synthetischen Eiweißgemisch, das den Krankheitsverlauf ebenfalls positiv beeinflussen kann.1 Sie zeigen bei rund 70 Prozent der MS-Betroffenen eine gute Wirksamkeit. Allerdings mussten bis dato alle Wirkstoffe per Injektion verabreicht werden. Zudem sind die möglichen Nebenwirkungen nicht unerheblich: Viele Patient*innen reagieren beispielsweise bei der Interferon-Behandlung mit grippeähnlichen Symptomen auf die Injektion.1

Wie hat sich die MS-Behandlung in den letzten Jahren verbessert? 

Forscher*innen weltweit arbeiten schon lange intensiv an der Entwicklung neuer MS-Medikamente und erzielten viele Fortschritte. Seit 2011 wurden gleich mehrere Wirkstoffe zugelassen, die nicht gespritzt werden müssen, sondern als Tabletten eingenommen werden können.1 Diese Medikamente sind zur Behandlung der schubförmigen MS zugelassen. Sie eliminieren Zellen des Immunsystems, die bei der Autoimmunerkrankung den eigenen Körper angreifen, oder dämpfen deren Aktivität.
Es wurden außerdem Antikörper entwickelt, die ebenfalls direkt in den Krankheitsprozess eingreifen können. Seit 2018 gibt es einen Antikörper, der als Infusion oder Injektion verabreicht wird und auch zur Behandlung der primär progredienten MS zugelassen ist.1

Dank der Medikamente, die in den modernen MS-Therapien üblicherweise zum Einsatz kommen, kann die Schubrate bei der Mehrzahl der Patient*innen gesenkt und das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt werden.1 

Gut zu wissen: Was sind Antikörper

Antikörper sind Eiweiße, die unser Immunsystem bildet, um Krankheitserreger wie Viren oder Bakterien zu erkennen und zu bekämpfen. In der MS-Therapie werden künstlich hergestellte Antikörper eingesetzt. Sie können bestimmte Immunzellen blockieren oder deren Aktivität verringern, um den Angriff auf die Nerven zu bremsen und Entzündungen zu reduzieren.

Wie sieht die Zukunft der MS-Therapie aus?

Es gibt heute schon viele gut wirksame Therapieoptionen, doch leider sprechen nicht alle MS-Betroffenen gleich gut an. Besonders bei primär und sekundär progredienter MS gibt es aktuell noch keine Behandlungsoptionen, die den Krankheitsverlauf zufriedenstellend beeinflussen können. Deshalb versuchen Forscher*innen weltweit, neue MS-Medikamente zu entwickeln. Sie suchen auch nach Substanzen mit völlig neuen Ansatzpunkten, um in das Krankheitsgeschehen der MS einzugreifen. 

Einige Wissenschaftler*innen setzen beispielsweise darauf, die Bruton-Tyrosinkinase zu hemmen. Diese Substanzen werden BTK-Inhibitoren oder kurz BTKi genannt. Die Bruton-Tyrosinkinase spielt eine Schlüsselrolle bei der Aktivierung von B-Zellen und Mikrogliazellen. Bei Multipler Sklerose werden B-Zellen fälschlicherweise aktiviert und schädigen körpereigene Strukturen im zentralen Nervensystem. 

Gegenwärtige Therapien bei MS reduzieren in der Regel die Gesamtzahl der B-Zellen, greifen also umfassend in das Immunsystem ein.5 BTKi regulieren überaktive B-Zellen sowie Mikrogliazellen und verhindern dadurch, dass diese das zentrale Nervensystem schädigen.

Gut zu wissen: 

Was sind B-Zellen? 
B-Zellen sind spezielle weiße Blutkörperchen und gehören zum Immunsystem. Ihre Hauptaufgabe ist es, Antikörper zu produzieren, die eingedrungene Krankheitserreger erkennen, angreifen und zerstören. Bei Multipler Sklerose (MS) spielen B-Zellen jedoch eine problematische Rolle: Sie können dazu beitragen, dass das Immunsystem die schützende Hülle der Nerven (Myelin) angreift. 

Was sind Mikrogliazellen? 
Mikrogliazellen sind wichtige ortsständige Immunzellen im Gehirn, die vermutlich vor allem bei der (sekundär) chronisch progredienten MS die Entzündung im zentralen Nervensystem aufrechterhalten.

BTKi sind kleine Moleküle, die als Tablette eingenommen werden können und nicht gespritzt werden müssen. Außerdem können sie im Körper die sogenannte Blut-Hirn-Schranke überwinden. Sie können also in das Gehirn und in das Rückenmark gelangen. Das ist deswegen wichtig, weil bei MS viele Symptome durch ein Krankheitsgeschehen im Gehirn und Rückenmark entstehen. BTKi können, im Gegensatz zu vielen anderen modernen Medikamenten, auch an diesen Stellen wirken. So besteht die berechtigte Hoffnung, dass BTKi auch bei progredienten MS-Formen wirken.5  

Ende 2024 wurden erste vielversprechende Studienergebnisse von BTKi bei progredienter MS veröffentlicht, in den USA und Europa sind bereits Zulassungsanträge eingereicht. Es ist also zu erwarten, dass in naher Zukunft mit BTKi eine neue Wirkstoffklasse zur Verfügung steht, die auch bei primär und sekundär progredienter MS eingesetzt werden kann.6,7 

„Kann die Multiple Sklerose immer aktiv sein?“

Dieses Erklärvideo erläutert, welche Entzündungsprozesse das Krankheitsgeschehen der MS beeinflussen und welche Rolle die Blut-Hirn-Schranke spielt.

    Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Dieses umfasst die Nervenstrukturen im Gehirn und im Rückenmark. Die Entzündungsprozesse sind komplex und entstehen durch unterschiedliche Mechanismen. Zum Beispiel können entzündungsfördernde Immunzellen, insbesondere aktivierte T- und B-Lymphozyten, durch die sogenannte Blut-Hirn-Schranke, eine Barriere, die das Gehirn eigentlich schützen soll, in das Gehirn eindringen.

    Im zentralen Nervensystem angekommen, richten diese Zellen sich mit anderen Immunzellen gegen das Myelin – eine Schutzschicht, die die Nervenfasern bedeckt. Durch diesen Prozess entstehen akute Entzündungen, die zu MS-Schüben führen können, oder zu Gewebeschäden, sogenannte Läsionen, die im MRT sichtbar sind.
     
    Bei einigen MS-Betroffenen kann sich die Erkrankung jedoch auch ohne Schübe oder sichtbare Läsionen kontinuierlich verschlechtern. Aus diesem Grund geht man davon aus, dass es einen chronisch schwelenden Entzündungsprozess gibt, der neben der akuten Entzündung abläuft. 

    Wissenschaftler*innen vermuten, dass dieser chronisch schwelende Entzündungsprozess von Krankheitsbeginn an vorhanden ist. Man spricht dabei von „Smoldering MS“ bzw. „schwelender MS“.
    Die chronisch schwelende Entzündung könnte für das Fortschreiten der MS unabhängig von Schüben verantwortlich sein. Diese schubunabhängige Krankheitsprogression wird auch als PIRA bezeichnet, eine Abkürzung für „Progression independent of Relapse Activity“.

    Während des anfänglichen akuten Entzündungsprozesses der MS produzieren die aktivierten Lymphozyten Substanzen, die weitere Entzündungszellen anziehen. Einige dieser angelockten Zellen verbleiben im zentralen Nervensystem, insbesondere die B-Lymphozyten. Andere Entzündungszellen wie die Astrozyten und Mikroglia werden als im zentralen Nervensystem ansässige Zellen bezeichnet. Alle zusammen produzieren eine Reihe von entzündungsfördernden Substanzen. 

    Diese behindern die Reparatur der geschädigten Nervenzellen nach einer akuten Läsion. Das kann letztlich dazu führen, dass die Nervenzellen absterben. Diese im zentralen Nervensystem ansässigen Zellen sind dafür verantwortlich, die Entzündung aufrechtzuerhalten und sie in einen chronischen Prozess zu verwandeln.

    Du kannst Dir das wie bei einem Lagerfeuer vorstellen: 
    Dabei entspricht die akute Entzündung den Flammen. Die chronisch schwelende Entzündung ist die Glut, die nach dem Erlöschen des Feuers weiterhin Hitze erzeugt.

    Auch andere Faktoren spielen bei den Entzündungsprozessen im Verlauf der Jahre eine zunehmend wichtige Rolle. Dazu gehören das Altern, Begleiterkrankungen, die ebenfalls das zentrale Nervensystem betreffen können, wie Bluthochdruck oder Diabetes, sowie der dauerhafte Konsum von schädlichen Substanzen wie Tabak und Alkohol. 

Enormer Fortschritt in puncto Behinderungen

Die Immuntherapie kann bei der Multiplen Sklerose die Entwicklung von Behinderungen häufig verhindern.8 Besonders eindrucksvoll zeigte das eine Studie US-amerikanischer Forscher*innen, die die Häufigkeit des Auftretens von Behinderungen genauer untersucht haben. Die Wissenschaftler*innen haben dokumentiert, dass heutzutage rund 90 Prozent der Patient*innen, bei denen eine Multiple Sklerose (MS) festgestellt wird, auch rund 17 Jahre nach der Diagnosestellung keine Gehhilfe benötigen.9 Dieses Ergebnis der US-Studie verdeutlicht den enormen Fortschritt, der sich in den vergangenen Jahren bei der Therapie der MS vollzogen hat. Denn ohne Behandlung wäre nach dieser Zeit jede*r zweite MS-Betroffene auf eine Gehhilfe oder sogar auf einen Rollstuhl angewiesen.9

 

Erwarte mehr 

Veränderung gehört zum Leben und Deine Wünsche und Bedürfnisse können sich mit der Zeit wandeln. Außerdem können Fortschritte in der MS-Forschung zukünftig neue Therapiemöglichkeiten eröffnen. Deshalb solltest Du mit Deinem Neurologen oder Deiner Neurologin regelmäßig über Deine persönliche Situation sowie über Erwartungen und Herausforderungen bei der Therapie sprechen. Nur wenn Ärzte und Ärztinnen gut über Deine Situation informiert sind, können sie Dir gezielt helfen und Deine Therapie optimal an Dein Leben anpassen.

Hier erfährst Du mehr darüber, wie Du schwierige Themen mit Deinem Arzt bzw. Deiner Ärztin besprechen kannst.

Häufig gestellte Fragen

  • MS gehört zu den sogenannten Autoimmunerkrankungen, bei denen sich das Immunsystem gegen körpereigene Strukturen richtet. Warum es das tut, ist noch nicht vollständig geklärt. Deshalb gibt es bislang auch keine Heilung der MS. Forscher*innen weltweit arbeiten daran, die fehlgeleitete Immunreaktion zu entschlüsseln und die Behandlung der MS weiter zu verbessern. 

  • Die Blut-Hirn-Schranke kontrolliert den Stoffaustausch zwischen Gehirn und Blutkreislauf und schützt das Gehirn vor möglicherweise schädlichen Stoffen. Sie verhindert aber auch, dass viele MS-Medikamente ins Gehirn gelangen. Diese können also nur im restlichen Körper wirken und nichts gegen die Läsionen im Gehirn ausrichten. Zukünftige Medikamente zielen darauf ab, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden, um eine gezieltere und umfassendere Wirkung zu erreichen.


Quellen:

1. Vfa – Die forschenden Pharma-Unternehmen. Multiple Sklerose: Symptome, Krankheitsverlauf und Behandlungsmöglichkeiten. www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/woran-wir-forschen/dauerbehandlung-multiple-sklerose, letzter Zugriff: 03.03.2025
2. Filipi M et al. Int J MS Care 2020; 22(4): 165–72
3. Deutsche Apotheker Zeitung. EU-Zulassung für Rebif®: Multiple Sklerose: Neue Behandlungsmöglichkeit. www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/1998/daz-20-1998/uid-3308, letzter Zugriff: 03.03.2025
4. Deutsches Ärzteblatt. Interferon bei Multipler Sklerose: Drittes Präparat vor der Zulassung.
www.aerzteblatt.de/archiv/10899/Interferon-bei-Multipler-Sklerose-Drittes-Praeparat-vor-der-Zulassung, letzter Zugriff: 03.03.2025
5. AMSEL - MS-Docblog – Details zur neuen Wirkstoffklasse der BTKi (Video). www.ms-docblog.de/multiple-sklerose/ms-docblog-details-zur-neuen-wirkstoffklasse-der-btki/, letzter Zugriff: 03.03.2025
6. AMSEL - Mit BTK-Inhibitoren gegen progrediente MS? www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/mit-btk-inhibitoren-gegen-progrediente-ms/, letzter Zugriff: 03.03.2025
7. Neurologienetz. Pharmanews aus dem Fachbereich Neurologie. Zulassungsantrag für Tolebrutinib zur vorrangigen Prüfung in den USA für Patienten mit Multipler Sklerose angenommen – Neurologienetz , letzter Zugriff 11.06.2025
8. Cree BAC et al. Ann Neurol 2016; 80: 499–510
9. Jokubaitis VG et al. Ann Neurol 2016; 80: 89–100 

 

 

MAT-DE-2100044-1.0-07/2025