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Dr. Ries: Mit der MS-Therapie pausieren?

Portrait von Dr. Stefan Ries

Dr. Stefan Ries

Hast Du die Einnahme Deines Medikamentes zeitweilig satt und möchtest gerne mal eine Therapiepause einlegen? Das ist durchaus verständlich, denn Tag für Tag, Jahr um Jahr an die Einnahme von Medikamenten zu denken und teilweise sogar den eigenen Alltag danach auszurichten, kann ganz schön ermüdend sein. Doch Vorsicht: Du solltest Deine MS-Medikamente nicht eigenmächtig absetzen, sondern das unbedingt mit Deinem Arzt besprechen. Gemeinsam könnt Ihr entscheiden, ob eine Pause von der MS-Therapie gerechtfertigt ist oder ob das Risiko zu hoch ist, damit einen akuten Krankheitsschub und eine höhere Krankheitsaktivität zu provozieren. Was man dabei bedenken sollte, erklärt Dr. Stefan Ries vom NeuroCentrum Odenwald in Erbach in einem Interview.

Zur Person:
Dr. Stefan Ries ist Facharzt für Neurologie und niedergelassen im NeuroCentrum Odenwald. Die Gemeinschaftspraxis verfügt über ein breites Spektrum der Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten bei neurologischen Erkrankungen und fungiert als Schwerpunktpraxis für die Multiple Sklerose. Standorte der Praxis, in der zehn Fachärzte tätig sind, gibt es in Erbach, Groß-Umstadt und Darmstadt.

(Dieses Interview erschien in der MS persönlich, der MS-Begleiter Zeitschrift.)

MS PERSÖNLICH: Herr Dr. Ries, warum ist es für Menschen mit Multipler Sklerose wichtig, die verordneten Medikamente zuverlässig einzunehmen?

DR. RIES: Ziel der Behandlung der Multiplen Sklerose ist, die Krankheitsaktivität einzudämmen und so akute Krankheitsschübe und die Entwicklung von Behinderungen abzuwenden. Welche Medikamente geeignet sind, richtet sich nach der individuellen Situation des Betroffenen und wird im gemeinsamen Gespräch von Arzt und Patient entschieden. Danach ist es wichtig, die verordnete Arznei regelmäßig und entsprechend der ärztlichen Anordnung einzunehmen, denn ein Medikament kann nur wirken, wenn es eingenommen wird. Und nur dann können auch Behandlungsziele erreicht werden.

MS PERSÖNLICH: Ist es nicht sehr schwierig, regelmäßig Medikamente einzunehmen, obwohl man keine Beschwerden hat?

DR. RIES: Bei der Multiplen Sklerose ist es ähnlich wie bei einem Schlaganfall oder Herzinfarkt. Auch bei diesen Erkrankungen nehmen die Patienten Medikamente ein, die sie vor Komplikationen schützen. Das Behandlungsziel besteht also nicht darin, ein bestimmtes Symptom zu lindern, sondern einem bestimmten Ereignis vorzubeugen. Bei der MS haben wir im Prinzip die gleiche Situation: Die Betroffenen nehmen Medikamente, damit sie keinen Krankheitsschub bekommen und sich keine Behinderungen entwickeln. So bewahren sie sich Lebensqualität und ihr Alltag wird durch die Erkrankung weniger beeinträchtigt. Diese Chance sollten Menschen mit MS unbedingt nutzen.

MS PERSÖNLICH: Welches Risiko besteht, wenn die Medikamente abgesetzt werden?

DR. RIES: Wie schon erwähnt, wir praktizieren bei der MS eine vorbeugende Behandlung. Wenn die Medikamente abgesetzt werden, kann die beabsichtigte Schutzwirkung verloren gehen und es können wieder Krankheitsschübe mit all ihren Konsequenzen auftreten.

MS PERSÖNLICH: Was sollten Patienten tun, wenn sie zunehmend Schwierigkeiten haben, ihre Medikamente einzunehmen?

DR. RIES: Sie sollten keinesfalls die Medikamente eigenmächtig weglassen, sondern das Thema mit ihrem Arzt besprechen. Gemeinsam kann man dann überprüfen, wo die Probleme liegen, ob zum Beispiel Nebenwirkungen die Ursache sind oder ob die Behandlung einfacher gestaltet werden kann. Der Arzt wird sich außerdem die Krankengeschichte genau anschauen und eventuell weitere Untersuchungen veranlassen. So kann er abschätzen, wie hoch das Risiko für ein erneutes Aufflackern der Krankheitsaktivität ist. Entscheiden sich Arzt und Patient für eine Behandlungspause, sollten danach engmaschige Kontrolluntersuchungen erfolgen.

MS PERSÖNLICH: Warum ist das wichtig?

DR. RIES: Das Fortschreiten der MS vollzieht sich oft schleichend und bleibt zum Teil längere Zeit unbemerkt. Genau dem soll ja durch die Therapie vorgebeugt werden. Setzt man die Behandlung aus, steigt zwangsläufig die Gefahr, dass die Erkrankung fortschreitet. Durch engmaschige Kontrollen versuchen wir, eine solche Situation frühzeitig zu erkennen und ihr durch die Wiederaufnahme der Therapie zu begegnen.

MS PERSÖNLICH: Ist eine solche Krankheitsprogression bei allen Menschen mit MS zu erwarten?

DR. RIES: Die MS hat viele Facetten. Bei lokalen Entzündungsprozessen kann sie sich zum Beispiel mit Krankheitsschüben bemerkbar machen. Das Krankheitsgeschehen kann aber auch in eine diffuse Entzündungsaktivität übergehen. Dann droht die sogenannte stille Krankheitsprogression, also ein lange Zeit unbemerktes Fortschreiten der Krankheitsaktivität. Diese Situation kann sich durch zunehmende Defizite zeigen, zum Beispiel durch eine übermäßige Erschöpfung, die sogenannte Fatigue. Auch eine Einschränkung der kognitiven Funktion wie etwa Probleme mit der Konzentrationsfähigkeit und der Gedächtnisleistung und ein allgemeines Nachlassen der geistigen Flexibilität können Hinweise auf eine stille Krankheitsprogression sein. Diese Symptome können auf einen Verlust an Hirnvolumen hinweisen, der über das beim Gesunden übliche Maß hinausgeht. Ein solcher Effekt – wir sprechen von einer Hirnatrophie – lässt sich zum Beispiel anhand der Kernspintomographie erkennen. Auch diesen Prozess versuchen wir durch die Therapie abzuwenden.

MS PERSÖNLICH: Ab wann ist mit einer solchen Entwicklung zu rechnen?

DR. RIES: Das kann individuell sehr unterschiedlich sein. Allerdings wissen wir inzwischen, dass sich die geschilderten Prozesse oft schon sehr früh im Krankheitsverlauf vollziehen. Das ist ja das entscheidende Argument dafür, schon frühzeitig eine konsequente Behandlung der Multiplen Sklerose zu beginnen.

MS PERSÖNLICH: Wann ist vor diesem Hintergrund eine Behandlungspause zu rechtfertigen?

DR. RIES: Dazu gibt keine Studiendaten und man kann das auch nicht pauschal sagen. Deshalb muss man im Einzelfall entscheiden. Dabei sind unter anderem das jeweilige Alter, die Dauer der Erkrankung und der gesamte Krankheitsverlauf zu berücksichtigen. Kommt man zu dem Ergebnis, dass es gerechtfertigt ist, eine Behandlungspause einzulegen, sollte sich der Patient jedoch bewusst sein, dass die Krankheitsaktivität wieder aufflackern kann. Gibt es Hinweise für eine solche Entwicklung, sollten die Medikamente unverzüglich wieder eingenommen werden.

MS PERSÖNLICH: Wie kann man einem starken Wunsch nach einer Behandlungspause begegnen? 

DR. RIES: Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir als Ärzte eine Therapie verordnen, mit der der Patient gut zurechtkommt. Die Therapiezufriedenheit ist das A und O und eine wichtige Basis für eine langfristige Therapietreue. Mit anderen Worten: Wer die Einnahme seiner Medikamente gut in seinen Tagesablauf integrieren kann und keine Nebenwirkungen spürt, wird sich vergleichsweise leicht tun, am Ball zu bleiben. Ist das nicht der Fall, ist ein Therapiewechsel oft sinnvoller als eine Therapiepause. Es hat bei der Behandlung der MS in den vergangenen Jahren viele Fortschritte gegeben und wir sind heutzutage gut in der Lage, die Therapie den persönlichen Bedürfnissen der Patienten anzupassen. Wer mit seiner Medikation nicht gut zurechtkommt, sollte das unbedingt offen bei seinem Arzt ansprechen. In aller Regel wird sich im gemeinsamen Gespräch eine Behandlungsalternative finden lassen.

MS PERSÖNLICH: Herr Dr. Ries, haben Sie vielen Dank für das Interview.