Wird es für Dich immer schwieriger, längere Strecken zu gehen, oder fällt es Dir zunehmend schwerer, lange konzentriert zu bleiben? Hat sich Dein Sehvermögen oder haben sich andere MS-Symptome langsam verschlechtert – und das, obwohl Du keinen Schub hattest? Lange war unklar, was genau hinter solchen schleichenden Verschlechterungen steckt. Heute vermutet man: Bei MS gibt es nicht nur akute Entzündungen während eines Schubs. Daneben kann auch eine chronisch schwelende, also dauerhafte Entzündung vorliegen. Wissenschaftler*innen sprechen dabei von „smoldering MS“ bzw. „schwelender MS“.

Was bisher über MS bekannt war  

Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fehlgeleitet ist und sich gegen körpereigene Strukturen im zentralen Nervensystem richtet. Entzündungen schädigen die schützende Isolierschicht um die Nervenfasern, das sogenannte Myelin. Dadurch wird die Informationsweiterleitung der Nerven verlangsamt, die Sinnesreize an das Gehirn und Steuerbefehle an Muskeln und Organe übermitteln. Es können Symptome wie Muskelschwäche, Missempfindungen oder Sehstörungen auftreten – abhängig davon, welche Nerven betroffen sind. Im Verlauf der Erkrankung können die Entzündungen auch die Nerven angreifen und diese sogar zerstören. Diese fortschreitende Beeinträchtigung der Nervenstrukturen wird auch Neurodegeneration genannt. 

Bei der schubförmigen MS treten akute Entzündungen auf, die Schübe verursachen können und Symptome hervorrufen. Sobald die Entzündung abklingt, werden die Symptome weniger und können sogar vollständig abklingen. Bis zum nächsten Schub. 

Es gibt jedoch auch Menschen mit MS, die gar keine Schübe haben oder deren Schübe durch Medikamente gut verhindert werden können. Dennoch verschlechtern sich ihre Einschränkungen schleichend. Was bisher über die MS bekannt war, erklärte dieses Krankheitsgeschehen nicht.

„Kann sich mein Zustand verschlechtern, ohne dass ich Schübe habe?“

Dieses kurze Erklärvideo zeigt anschaulich, wie chronische Entzündungen zu einer schleichenden Verschlechterung führen können.

    Kann sich mein Zustand verschlechtern, ohne dass ich Schübe habe?
    Häufig ist die Multiple Sklerose durch das Auftreten von Krankheitsschüben gekennzeichnet. Man spricht von einem Schub, wenn neue oder bereits bekannte Symptome auftreten und für mindestens 24 Stunden anhalten, wobei weder Fieber noch eine Infektion vorliegen. 

    Nehmen wir als Beispiel das Sehvermögen. Bei einem Schub können Betroffene plötzlich Dinge doppelt sehen. Ihr Zustand kann sich über 1 bis 2 Tage verschlimmern. Danach folgt eine Phase der Stabilität, die mehrere Tage bis Wochen dauern kann. Dann erholen sich Betroffene allmählich.

    Ein Schub kann sich vollständig zurückbilden, d. h. es bleiben keine Beeinträchtigungen zurück, oder unvollständig. Bleiben Einschränkungen zurück, spricht man von einer schubassoziierten Verschlechterung.

    Dank moderner Behandlungsmöglichkeiten haben viele Menschen mit MS fast keine Schübe mehr. Ihr Zustand kann sich jedoch auch unabhängig von Schüben mit der Zeit verschlechtern und ihre Einschränkungen können voranschreiten. Der schleichende Krankheitsfortschritt unabhängig von Schubaktivitäten wird auch als PIRA bezeichnet, eine Abkürzung für „Progression Independent of Relapse Activity“.

    Ein Beispiel: Stellen wir uns eine 39-jährige Patientin mit RRMS vor, also einer schubförmig remittierenden Form der MS.
    Sie wird seit mehreren Jahren mit einem krankheitsmodifizierenden Medikament behandelt und hat seit Beginn der Behandlung keinen Schub erlitten. Es sind auch keine neuen Läsionen bei der MRT sichtbar. Dennoch hat sich der Schweregrad ihrer Einschränkungen von 2 auf 3 verschlechtert. Dieser wird über den sogenannten EDSS-Wert bestimmt. 
    In den letzten Jahren hat sich ihr Sehvermögen immer weiter verschlechtert. Es fing mit verschwommenem Sehen an, das nach dem letzten Schub blieb, bis hin zu Doppeltsehen und anderen Befunden. Obwohl sie keinen Schub hatte, haben sich ihre Symptome also mit der Zeit verschlimmert. 

    Das ist ein Beispiel für eine Patientin mit PIRA, der schleichenden Krankheitsprogression.
    Obwohl bei der MRT keine akuten Entzündungsherde oder anderen Veränderungen erkennbar sind und keine Schübe auftreten, besteht dennoch eine chronisch schwelende Entzündung im zentralen Nervensystem. Diese erschwert die Re-Myelinisierung und begünstigt das Absterben von Nervenzellen. Aus diesem Grund kann sich der Zustand von Betroffenen verschlechtern. Du kannst Dir das wie bei einem Kaminfeuer vorstellen. Obwohl es keine Flammen mehr gibt, also keine akuten Entzündungen, erzeugt die schwelende Glut weiterhin Hitze. Das heißt chronisch schwelende Entzündungsprozesse sind dennoch vorhanden.

    Heute wissen wir, dass sich über 80 % der MS-bezogenen Einschränkungen unabhängig von Schüben ereignen, also vielmehr aufgrund von PIRA, der schubunabhängigen Krankheitsprogression.

    Man geht davon aus, dass dieser chronisch schwelende Prozess, der als schwelende MS bezeichnet wird, schon von Beginn der Krankheit an vorliegt. Bislang gibt es keine Medikamente, die dieses Phänomen verlangsamen können.

    Forscherinnen und Forscher weltweit arbeiten jedoch intensiv an der Entwicklung neuer Arzneimittel, die bei dieser Form der MS eingesetzt werden können,  da diese möglicherweise das Fortschreiten der Behinderung unabhängig von Schüben verlangsamen können.

Warum „smoldering MS“ die „echte Erkrankung“ sein könnte

Neueren Forschungen zufolge stehen hinter den langsam zunehmenden körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen der MS chronisch schwelende Entzündungen im Gehirn. Diese laufen bereits zu Beginn der Erkrankung ab und neben den akuten Entzündungsprozessen, die Schübe verursachen. Das heißt, sie „schwelen“ dauerhaft, auch in Phasen ohne Symptome und zwischen den Schüben. Du kannst Dir das wie ein Kaminfeuer vorstellen: Die akuten Entzündungen entsprechen den Flammen und die chronischen Entzündungsprozesse der schwelenden Glut. 

Dieser Prozess wird „smoldering MS“ (schwelende MS) genannt. Er ist der Grund dafür, dass die Multiple Sklerose auch ohne Schübe schleichend fortschreiten kann. Da man diesen chronisch schwelenden Prozess schlecht erkennen kann, ist es wichtig, regelmäßig zu beobachten, ob neue Symptome aufgetreten sind oder sich bestehende Symptome verschlechtert haben –  auch ohne dass ein Schub stattgefunden hat. Deine Neurologin bzw. Dein Neurologe beurteilt dies z. B. anhand der EDSS-Skala.

Wissenschaftler*innen vermuten in den chronisch schwelenden Entzündungen den eigentlichen Treiber der Erkrankung, der erst allmählich zu Symptomen führt. Sie bezeichnen die schwelende Entzündung als die „echte Erkrankung“.1 Die Symptome, die bei der MS auftreten, werden als eine Folge der fortlaufenden Entzündungen verstanden. Sie können als langsame MS-Progression auftreten oder sich als plötzliches „Aufflammen der Entzündung“ in Form eines Schubs äußern.
 

"Ist MS immer aktiv?"

Dieses Erklärvideo zeigt anschaulich, wie es zu dem chronisch schwelenden Entzündungsprozess kommen kann. Ansehen lohnt sich.

    Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Dieses umfasst die Nervenstrukturen im Gehirn und im Rückenmark. Die Entzündungsprozesse sind komplex und entstehen durch unterschiedliche Mechanismen. Zum Beispiel können entzündungsfördernde Immunzellen, insbesondere aktivierte T- und B-Lymphozyten, durch die sogenannte Blut-Hirn-Schranke, eine Barriere, die das Gehirn eigentlich schützen soll, in das Gehirn eindringen.

    Im zentralen Nervensystem angekommen, richten diese Zellen sich mit anderen Immunzellen gegen das Myelin – eine Schutzschicht, die die Nervenfasern bedeckt. Durch diesen Prozess entstehen akute Entzündungen, die zu MS-Schüben führen können, oder zu Gewebeschäden, sogenannte Läsionen, die im MRT sichtbar sind.
     
    Bei einigen MS-Betroffenen kann sich die Erkrankung jedoch auch ohne Schübe oder sichtbare Läsionen kontinuierlich verschlechtern. Aus diesem Grund geht man davon aus, dass es einen chronisch schwelenden Entzündungsprozess gibt, der neben der akuten Entzündung abläuft. 

    Wissenschaftler*innen vermuten, dass dieser chronisch schwelende Entzündungsprozess von Krankheitsbeginn an vorhanden ist. Man spricht dabei von „Smoldering MS“ bzw. „schwelender MS“.
    Die chronisch schwelende Entzündung könnte für das Fortschreiten der MS unabhängig von Schüben verantwortlich sein. Diese schubunabhängige Krankheitsprogression wird auch als PIRA bezeichnet, eine Abkürzung für „Progression independent of Relapse Activity“.

    Während des anfänglichen akuten Entzündungsprozesses der MS produzieren die aktivierten Lymphozyten Substanzen, die weitere Entzündungszellen anziehen. Einige dieser angelockten Zellen verbleiben im zentralen Nervensystem, insbesondere die B-Lymphozyten. Andere Entzündungszellen wie die Astrozyten und Mikroglia werden als im zentralen Nervensystem ansässige Zellen bezeichnet. Alle zusammen produzieren eine Reihe von entzündungsfördernden Substanzen. 

    Diese behindern die Reparatur der geschädigten Nervenzellen nach einer akuten Läsion. Das kann letztlich dazu führen, dass die Nervenzellen absterben. Diese im zentralen Nervensystem ansässigen Zellen sind dafür verantwortlich, die Entzündung aufrechtzuerhalten und sie in einen chronischen Prozess zu verwandeln.

    Du kannst Dir das wie bei einem Lagerfeuer vorstellen: 
    Dabei entspricht die akute Entzündung den Flammen. Die chronisch schwelende Entzündung ist die Glut, die nach dem Erlöschen des Feuers weiterhin Hitze erzeugt.

    Auch andere Faktoren spielen bei den Entzündungsprozessen im Verlauf der Jahre eine zunehmend wichtige Rolle. Dazu gehören das Altern, Begleiterkrankungen, die ebenfalls das zentrale Nervensystem betreffen können, wie Bluthochdruck oder Diabetes, sowie der dauerhafte Konsum von schädlichen Substanzen wie Tabak und Alkohol.

Warum sind chronische Läsionen so bedeutsam? 

Es hat sich herausgestellt, dass chronisch aktive Läsionen eine Ursache für die Zunahme körperlicher und kognitiver Beeinträchtigungen sein können. Sie kommen relativ häufig vor, etwa 56 Prozent der Menschen mit MS haben mindestens eine.3,4 Anders als akute Läsionen bilden sie sich nicht zurück, sondern werden mit der Zeit größer, man nennt sie daher chronisch aktive Läsionen.
Es hat sich auch herausgestellt, dass chronisch aktive Läsionen eine Ursache für die Zunahme körperlicher und kognitiver Beeinträchtigungen sein können.2 Die Beeinträchtigungen können entweder unscheinbar oder sichtbar sein. Das ist, wie die MS selbst, von Person zu Person sehr unterschiedlich.


 

 » Achte im Alltag auf zunehmende oder wiederkehrende Veränderungen Deiner körperlichen und kognitiven Funktionen!5 «


 

Was kannst Du selbst tun, um die Auswirkungen von chronisch aktiven Läsionen bei MS zu verringern?

Um die Auswirkungen einer eventuell vorhandenen schwelenden MS auf Dein Leben gering zu halten, kannst Du die folgenden Hinweise beachten:

Es ist wichtig, dass Du Deine Kontrolltermine und die MRT-Untersuchungen wahrnimmst, selbst wenn Du keine Beschwerden hast, damit chronisch aktive Läsionen entdeckt werden können.3 Das ist für die Beurteilung des Krankheitsverlaufs sehr bedeutsam. So kann Dein Arzt bzw. Deine Ärztin das Fortschreiten der Erkrankung gut erkennen und bei Bedarf Deine Therapie anpassen oder andere Maßnahmen ergreifen.

Informiere Deinen Arzt bzw. Deine Ärztin, wenn Dir Veränderungen bei Deinen körperlichen oder kognitiven Funktionen, wie z. B. Wahrnehmung, Lernen, Erinnern, Denken und Wissen, auffallen. 

Da die chronisch schwelende MS oft subtile Veränderungen verursacht, ist es wichtig, sie im Alltag bewusst zu beobachten:

  • Fallen Dir körperliche Veränderungen auf – etwa wiederkehrende Beschwerden oder neue Einschränkungen?
  • Stellst Du fest, dass Du geistig weniger leistungsfähig bist als sonst?
  • Bist Du schneller erschöpft als früher, selbst bei vertrauten Tätigkeiten?
  • Brauchst Du länger, um Dich nach Anstrengungen zu erholen?
  • Verändert sich Deine Stimmung oder fühlst Du Dich häufiger antriebslos?
     

Ein Symptomtagebuch oder eine Tagebuch-App kann Dir helfen, selbst kaum merkliche Veränderungen zu erkennen. Dokumentiere darin nicht nur Deine Symptome, sondern auch Begleitumstände, die sie möglicherweise beeinflussen. Das sind zum Beispiel Faktoren wie Stress, Hitze oder Deine Schlafqualität. Diese Informationen sind für Deinen Neurologen oder Deine Neurologin äußerst wertvoll. Anhand der Beobachtungen kann er bzw. sie eine chronisch schwelende Aktivität Deiner MS besser erkennen. Gemeinsam könnt Ihr dann entscheiden, ob es sinnvoll ist, Deine MS-Therapie anzupassen.

Auch Du trägst einen wichtigen Teil zu einer erfolgreichen Behandlung bei, denn Medikamente müssen regelmäßig und langfristig angewendet werden, damit sie wirken.

Eine positive Lebenseinstellung kann viel bewirken. Selbst bei unheilbaren Krankheiten können positive Gefühle und Gedanken die Lebensqualität erheblich verbessern und sogar lebensverlängernd wirken. Das ist keine Küchentischphilosophie, sondern frühere Studien haben bereits gezeigt, dass es eine Verbindung zwischen einer positiven Lebenseinstellung und unserer Gesundheit gibt.

  • Neue Wirkstoffe sollen helfen, progrediente Verlaufsformen zu behandeln, für die es bisher nur wenige Therapien gibt. Dazu setzen Forscher*innen zum Beispiel auf die BTK-Inhibitoren (BTKi). 

    BTKi hemmen bei ihrem Einsatz das Signalmolekül Bruton-Tyrosinkinase (BTK) in spezifischen Immunzellen und können damit die chronischen Entzündungen der schwelenden MS eindämmen. Aufgrund ihrer geringen Molekülgröße können BTKi sowohl im Blut als auch direkt am Ort des Geschehens, nämlich im zentralen Nervensystem, wirken, da sie die Blut-Hirn-Schranke überwinden können. 

    Die BTKi-Wirkstoffe gehören zu den Immuntherapien. Derzeit ist kein BTKi-Inhibitor für die Behandlung von MS zugelassen. Die Zulassungsanträge werden aktuell in den USA und der EU geprüft.6

  • Chronische Entzündungen im Körper können zwar Spuren im zentralen Nervensystem hinterlassen, diese Veränderungen sind jedoch nicht immer gleich auf einem MRT sichtbar. 
    Um diese Veränderungen zu erkennen, werden spezielle, sensitivere MRT-Aufnahmen gemacht, die besonders empfindlich auf aktivierte eisenbeladene, entzündungsfördernde
    Immunzellen reagieren. Sie sind durch einen charakteristischen Ring aus eisenhaltigen Zellen (Phagozyten) gekennzeichnet, die in den MRT-Bildern als auffälliger Rand erscheinen können.4

Quellen:

1. Giovannoni G et al. Ther Adv Neurol Disord 2022; 15: 17562864211066751. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8793117/, letzter Zugriff: 17.03.2025
2. AMSEL – Smouldering MS – was ist das? www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/smouldering-ms-was-ist-das/, letzter Zugriff: 17.03.2025
3. MS Trust – MRI reveals smouldering MS lesions. https://mstrust.org.uk/news/research/191030-smouldering-lesions, letzter Zugriff: 17.03.2025
4. Absinta M et al. JAMA Neurol 2019; 76(12): 1474-1483 https://jamanetwork.com/journals/jamaneurology/fullarticle/2747565/, letzter Zugriff: 17.03.2025
5. DMSG. Was ist Multiple Sklerose (MS)? www.dmsg.de/multiple-sklerose/was-ist-ms, letzter Zugriff: 17.03.2025
6. AMSEL - Beschleunigtes Zulassungsverfahren für BTKi. www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/beschleunigtes-zulassungsverfahren-fuer-btki/, letzter Zugriff: 17.03.2025
7. WELT-KMPKT. So wirkt sich positives Denken auf den Körper aus. www.welt.de/kmpkt/article163290186/So-wirkt-sich-positives-Denken-auf-den-Koerper-aus.html, letzter Zugriff: 17.03.2025

 

 

MAT-DE-2301599-3.0-07/2025