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Es ist okay

Hilfsbedürftig bei Multipler Sklerose

Ganz, ganz langsam und in winzigen Schritten wurde aus mir ein hilfsbedürftiger Mensch. Nicht ganz in diesem Sinne, in dem das Wort „hilfsbedürftig“ in unserer Gesellschaft verankert ist. Nicht Not leidend, auf materielle Hilfe angewiesen oder schlichtweg alt. Nein, so nicht. Eher insofern, als dass ich öfter als andere Menschen eine helfende Hand brauche – sowohl im übertragenen Sinne als auch wortwörtlich. Doch wisst ihr, wie lange es gedauert hat, bis ich das akzeptieren konnte?

Als die MS die ersten Male ganz leise und beinahe unmerklich an die Tür klopfte, war ich gerade 20 Jahre alt, stand meist mehr und manchmal weniger mit beiden Beinen fest im Leben, war mitten in der Ausbildung und hatte seit anderthalb Jahren meinen Freund – das war im Januar 2016. Die Leser, die mich schon länger kennen, wissen, dass es ein ganzes Jahr gedauert hat, bis das sanfte Klopfen sich zu einem so lauten Orchester mit Pauken und Trompeten entwickelte, dass selbst ein – metaphorisch gesprochen – tauber Mensch (in meinem Falle meine Hausärztin) bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Und auch hier ist es nicht so, dass ich mir das selber eingestanden hätte. Nein, ganz im Gegenteil: Natürlich habe ich Schichten übernommen, obwohl mein Körper mal einen Tag Zeit für sich gebraucht hätte. Natürlich bin ich krank arbeiten gegangen, weil ich den Kollegen einen Gefallen tun wollte. Und ja, leider habe ich auch die Zweifel meines Freundes ignoriert, der um einiges gewissenhafter war (und auch ist) als ich. Ich wollte und konnte mir nicht eingestehen, dass ein Mensch, der immer alles geschafft hat, was er wollte, das mit einem Mal nicht mehr konnte. Wie gesagt: Es kam schleichend. Wenn ich zurückdenke, haben mir so viele Menschen so selbstverständlich geholfen, dass es niemandem auffiel, wie viel Unterstützung ich eigentlich in Anspruch nahm.

Ganz oben auf meiner Hilfspyramide stand natürlich mein Freund Jens, der morgens mit mir zur Bahn lief und wahrscheinlich mit jedem neuen Tag ein paar Gramm mehr meines Körpergewichtes mit seinem Arm stützen musste. Nach einem Jahr, kurz vor der Diagnose, hing ich wirklich mehr an ihm, als dass ich neben ihm lief. Auch dass er mehr im Haushalt helfen musste, weil ich einfach keine Kraft mehr dazu hatte, nahm er ohne zu murren hin. Er hat es bestimmt nicht einmal gemerkt, dass seine Kleine immer schwächer und schwächer wurde – im Kopf und von meinem Verhalten her war ich ja immer noch die gleiche Person, in die er sich verliebt hatte. Ich glaube, dass die Liebe einen nicht nur bezüglich der Fehler eines Partners blind macht, sondern vielleicht auch so ganz allgemein einiges in der Wahrnehmung verschieben kann. Ich war ihm so unendlich dankbar, dass er Tag und Nacht da war und habe ihm das wahrscheinlich viel zu selten gesagt – ich war ja schon genug mit mir selbst beschäftigt und sah bestimmt nicht einmal alles, was er nebenbei für mich tat. Tatsächlich weiß ich nicht, wie und ob ich es ohne seine Hilfe geschafft hätte, mein Leben jetzt so beinahe „normal“ leben zu können. Auch wenn ich es ihm nicht immer sage oder zeige, bin ich Tag für Tag dankbar für alles, was er für mich macht!

So wie mich Jens nicht nur psychisch, sondern auch physisch unterstützte und es immer noch tut, so war und ist auch meine Familie und besonders meine Mama ein großer Halt. Auch wenn es jetzt in den täglichen Telefonaten nicht mehr um die MS geht (außer natürlich, es gibt irgendetwas Neues zu berichten), ist es immer noch und jedes Mal wieder Balsam für die Seele, sich den Stress von der Seele zu reden und einen mütterlichen Rat zu hören – denn dieser ist schließlich der beste! Allgemein habe ich gelernt (und ich weiß, dass mir ein Großteil der MS-Mitstreiter sowie sicherlich auch andere Leser hierbei zustimmen werden), mich nur noch mit Menschen zu umgeben, die mir guttun, die versuchen, mich zu verstehen, und akzeptieren, dass ich nicht die Multiple Sklerose bin, sondern diese lediglich gratis als kleines Extrapäckchen vom Leben dazubekommen habe. Und hier spreche ich von einer Handvoll Freunden, die damit d᾽accord sind, wenn ich kurzfristig absagen muss, öfter Pausen machen muss, und die sich bei mir melden, wenn sie ein paar Tage nichts von mir gehört haben, weil sie sich sorgen. Solche Menschen sind Gold wert!

Doch all diese Beziehungen würden nichts ausrichten können, wenn ich nicht selber verstanden hätte, dass es okay ist, auch mal schwach zu sein. Dass es okay ist, wenn ein sonst starker Charakter (so würde ich mich zumindest beschreiben) einfach mal drauflos weint, weil die kleinsten Dinge plötzlich R I E S E N G R O ß erscheinen und die Emotionen überschwappen. Dass es okay ist, Pläne umzuwerfen oder im Haushalt öfter Pausen zu machen, weil der Körper einem deutliche Signale gibt. Und dass es auch absolut okay ist, sich bei Bedarf professionelle Hilfe zu holen (da auch die besten Freunde ab einem gewissen Punkt ratlos sein können). Es ist okay. Ihr seid okay. Wir sind okay! Schließlich sind wir ja noch immer dieselben wie vorher – nur halt ein kleines bisschen mehr auf die Hilfe unserer Mitmenschen angewiesen.

Und wenn ich das alles hier selbst noch einmal lese, klingt es so, als hätte ich immer diesen Durchblick. Das ist keineswegs so! Ich gehe immer noch zu oft über meine körperlichen Grenzen, weil ich denke, ich sei noch die Alte, und bereue es kurze Zeit später. Ich glaube, dass ich täglich dabei bin, mich neu kennenzulernen, meine Grenzen auszutesten und zu lernen, diese nicht aus Sturheit zu überschreiten.
Es dauert sicherlich noch eine ganze Weile, bis ich an dem Punkt angelangt bin, die MS vollständig zu akzeptieren und mich nicht mehr zu scheuen, nach Hilfe zu bitten. Wer weiß, vielleicht umfasst diese „ganze Weile“ mein ganzes Leben?

GZDE.MS.19.06.0380