Arzneimittel im Langzeittest
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Die Multiple Sklerose ist bisher nicht heilbar. Doch die Hoffnung ist groß, die Therapiemöglichkeiten durch neue Wirkstoffe noch deutlich verbessern zu können. Allerdings müssen neue Arzneimittel für eine Marktzulassung in kontrollierten klinischen Studien eingehend geprüft werden. Die Daten zur Wirksamkeit, Sicherheit und Unbedenklichkeit, die sich aus den Studien ergeben, sind umso zuverlässiger, je länger die Studien laufen. „Die Teilnahme an solchen kontrollierten Studien hat für die Patienten durchaus Vorteile“, berichtet Dr. Boris-Alexander Kallmann, niedergelassener Neurologe in Bamberg.
Bei der Behandlung der MS hat es laut Dr. Kallmann in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gegeben. Diese sind nicht zuletzt der Entwicklung neuer Wirkstoffe zu verdanken, die zielgenauer und effektiver als die früheren Medikamente korrigierend in die krankhaften Prozesse bei der MS eingreifen. Unabhängig davon sind die Wissenschaftler auch weiterhin sehr aktiv und suchen in den pharmazeutischen Laboren nach weiteren neuen Wirkstoffen, um die Therapiechancen weiter zu verbessern.
Teilnahme an Studien ist immer freiwillig
Ehe allerdings ein neuer erfolgversprechender Arzneistoff von den Gesundheitsbehörden offiziell zur Behandlung zugelassen wird, muss er zahlreiche klinische Prüfungen durchlaufen. Wie diese durchzuführen sind, ist genau festgelegt: Nach umfassenden Tests im Labor folgen Untersuchungen bei freiwilligen gesunden Personen und schließlich klinische Prüfungen bei Patienten mit MS, sogenannte kontrollierte Studien der Phase III.
„Auch die Teilnahme an diesen Medikamentenstudien erfolgt immer freiwillig und nur nach eingehender Aufklärung der Studienteilnehmer durch ihren betreuenden Arzt“, erklärt Dr. Kallmann.
„Doppelblinde“ Testung
Dabei ist nach seinen Worten genau vorgegeben, wie die Studie abzulaufen hat. Es gibt ein umfassendes Protokoll der Studie, das zudem durch eine Ethikkommission genehmigt werden muss. Üblicherweise erfolgen die Phase III-Studien „doppelblind“. Das bedeutet, dass zwei Patientengruppen gebildet werden, wobei eine Gruppe die Prüfsubstanz erhält und die andere eine adäquate Vergleichstherapie. Dabei wissen weder der behandelnde Arzt noch der Patient, welcher Gruppe er zufällig zugeteilt wurde und ob er die Prüfmedikation oder das Vergleichspräparat bekommt.
"Wir sind als Ärzte dankbar für jeden Behandlungsfortschritt, den wir unseren MS-Betroffenen bieten können"
Nach Abschluss der zeitlich genau festgelegten Prüfdauer werden die Daten offengelegt und es kann analysiert werden, welche Wirkungen die Prüfsubstanz vermittelt hat und ob möglicherweise unter dem Medikament Nebenwirkungen aufgetreten sind.
Langzeitstudien geben mehr Sicherheit
Üblicherweise ist die Studiendauer bei der Testung von Medikamenten begrenzt, bei der Behandlung der MS laufen die Studien oftmals etwa zwei Jahre. Auf Basis der ermittelten Daten kann dann die Zulassung des Arzneimittels bei der Behörde beantragt werden.
Das bedeutet nach Dr. Kallmann aber nicht, dass damit die Studie endgültig abgeschlossen wäre: Sehr häufig werden die Teilnehmer in eine sogenannte offene Folgestudie, eine Extensionsstudie, übernommen, in denen dann alle Patienten das oft inzwischen schon zugelassene Arzneimittel erhalten. In den Extensionsstudien wird untersucht, wie sich das Medikament auf lange Sicht auf die MS auswirkt. Es wird zum Beispiel eruiert, ob seine Wirksamkeit über Jahre erhalten bleibt und ob es möglicherweise bei der Langzeitanwendung über acht bis zehn Jahre oder noch länger doch zu seltenen, bis dato unerkannten Nebenwirkungen kommen kann.
„Die Langzeitdaten geben uns daher eine deutlich höhere Datensicherheit und ermöglichen eine bessere Beurteilung des Nutzens und möglicher Risiken des jeweiligen Arzneimittels“, so Kallmann. Es ist deshalb aus seiner Sicht ratsam, seinen Arzt danach zu fragen, ob zur jeweiligen Medikation auch Langzeitdaten vorliegen, wenn man ein neues Arzneimittel verordnet bekommt.
Profitiere ich als Patient von der Studienteilnahme?
Wer sich zur Teilnahme an einer kontrollierten klinischen Studie bereit erklärt, leistet einen wesentlichen Beitrag zur Forschung und zu möglichen künftigen Behandlungsfortschritten. Allerdings fragen sich Patienten, denen die Teilnahme an einer klinischen Studie angeboten wird, zwangsläufig auch, inwiefern sie selbst davon profitieren und ob nicht Risiken für sie mit der Studienteilnahme verbunden sind.
"Studienpatienten können sehr früh schon an Therapiefortschritten teilhaben"
„Wir können die Patienten in dieser Hinsicht beruhigen“, sagt Boris Kallmann, der in seiner MS-Schwerpunktpraxis selbst ein Studienzentrum integriert hat und als Prüfarzt an klinischen Studien beteiligt ist. Immerhin erhält man als Studienteilnehmer die Chance, mit einem neuen fortschrittlichen Medikament behandelt zu werden, ehe dies allgemein zur Anwendung zugelassen ist. „Die betreffenden Patienten können somit sehr früh schon an den Forschungsfortschritten teilhaben und von neuen Entwicklungen profitieren“, erläutert der Neurologe.
Es gilt das Motto: „Safety First“
Gleichzeitig werden sie sehr genau und in engen Intervallen untersucht: „Sie sind dadurch noch besser überwacht als andere Patienten mit der gleichen Erkrankung“, erklärt Kallmann. Der Sicherheitsaspekt ist in klinischen Studien besonders hoch. Kallmann: „Das ist wichtig, damit Studienteilnehmer keinerlei Risiken ausgesetzt sind und auch beim Auftreten unerwarteter Nebenwirkungen sofort entsprechend behandelt werden können“. Es werden dabei zum Teil auch Untersuchungen durchgeführt, die der jeweilige Patient im Rahmen der Routinebehandlung in der Praxis nicht bekommen würde.
Jeder Studienteilnehmer ist laut Kallmann zudem zusätzlich versichert und er kann jederzeit die Teilnahme an der Studie aus freien Stücken und ohne Nachteile beenden.
Die Studienaufnahme erfolgt außerdem nach eingehender Vorbereitung. Dazu gehören die Übermittlung von Informationsmaterial sowie mehrmalige Aufklärungsgespräche, in denen alle anstehenden Fragen erörtert werden können, und mit einer ausreichenden Bedenkzeit, in der der Patient seine Teilnahme in Ruhe auch mit seinen Angehörigen oder anderen Vertrauenspersonen besprechen und sein individuelles Nutzen-Risiko-Verhältnis dazu abwägen kann.
Wie kann ich an Studien teilnehmen?
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie Du zum Studienteilnehmer werden kannst:
- Es kommt vor, dass Du bei der Behandlung in einer MS-Schwerpunktpraxis von Deinem betreuenden Arzt gefragt wirst, ob Du an einer klinischen Studie teilnehmen möchtest.
- Wenn Du generell Interesse hast, an einer Studie teilzunehmen, kannst Du Deinen Arzt gezielt danach fragen, ob Du als Kandidat für eine solche Untersuchung in Frage kommst.
- Du kannst Deinen Arzt danach fragen oder aber Dich selbstverständlich selbst im Internet direkt auf den Webseiten von MS-Zentren in Deiner Nähe informieren, welche Studien dort laufen. Dann kannst Du bei entsprechendem Interesse beim Zentrum direkt nachfragen, ob Du an einer speziellen kontrollierten klinischen Studie teilnehmen kannst.
- Auch bei einer Patientenorganisation kannst Du erfragen, wo aktuell Studien zu bestimmten Fragestellungen durchgeführt und noch Studienteilnehmer gesucht werden.
MAT-DE-2003007_v1.0 (11/2020)