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Was ein Cello mit der MS zu tun hat
Jeder Finger ist ein Ton, ein tiefer, voller Klang. Das große Instrument mit seinem glänzend-hölzernen Klangkörper vibriert so, dass es überall zu spüren ist. Und ich kann es spielen – fast ein Wunder.
Multiple Sklerose bringt, wie bekannt ist, nicht nur sichtbare Symptome mit sich. Es sind sogar oft eher die unsichtbaren, die uns MSler besonders belasten oder sogar quälen. Es können Schmerzen sein oder einfache Tätigkeiten aus dem Alltag, die „früher“ keine Rolle spielten. Das tun sie erst, wenn du sie auf einmal nicht mehr kannst.
Da wäre zum Beispiel die Kognition. Sachen merken, schnell denken und reagieren, auf einen großen Wortschatz zugreifen – das sind zum Beispiel in meinem Fall Eigenschaften, die immer selbstverständlich da waren. Ich fand es immer schrecklich, wenn Menschen Fremdwörter falsch verwenden. Und jetzt passiert mir das selbst. Vor allem deshalb, weil mir der richtige Ausdruck einfach nicht mehr einfällt. Zwar sagen mir andere, dass ich ihnen in Sachen Eloquenz nicht eingeschränkt vorkomme – egal! Wichtig ist, dass ICH diese Einbußen spüre, was mich sehr belastet.
Gezielte Kognitionsübungen bei MS
Weil meine gefühlten kognitiven Einschränkungen so schwer für mich wiegen, habe ich natürlich begeistert zugestimmt, bei den Kognitionsübungen für den MS-Begleiter YouTube-Kanal mitzumachen. Doch beim Nachmachen dieser scheinbar einfachen Übungen spürte ich, wie schwer mir die Konzentration fällt. Sportlich bewegen und gleichzeitig Aufgaben lösen? Ich selbst habe das für mich schon als grenzwertig empfunden und nach einem Drehtag war ich echt k. o. Da stellt sich schnell die Frage: Fand ich das schon immer schwer oder ist es erst jetzt so? Oder fällt mir erst jetzt auf, dass es mir schwerfällt? Die MS ist ja ganz groß darin, Selbstzweifel zu schüren.
Kognitionsübungen und dabei einen Traum leben
Doch die MS kann noch mehr. Die Themen Träume und Lebensgestaltung erhalten seit der Diagnose in meinem Leben so viel Raum wie noch nie zuvor. Auf einmal ist die zuvor latente Bucketlist der Träume so präsent, so immer da. Während etwas größere Bündel wie die Weltreise oder das Auswandern mit Kindern leider nicht sofort umzusetzen sind, gibt es auch „kleine große Träume“, die ganz bald möglich werden konnten: Ja, es ist ein Cello. Das große Streichinstrument mit den herrlichen dunklen Tönen. Auf einem Cello spielen können – ich weiß gar nicht, seit wann ich mir das eigentlich schon wünsche?! Aber kurz nach der MS-Diagnose war mir einfach ganz klar: Ich lerne es jetzt!
Und ohne es zu dem Zeitpunkt zu wissen, tat ich mit dem Cellounterricht gleichzeitig das Beste für meine Kognition und meine Motorik. Denn was ich beim Cellospielen mache, ist ganz viel gleichzeitig.
Da ist zunächst, was auch meine ersten Unterrichtsstunden prägte, der richtige Bogenstrich. Wie halte ich so einen Bogen und wie streiche ich ihn, um einen gleichmäßigen Ton zu erzeugen, der nicht quietscht? Und glaubt mir: Es ist wirklich nicht einfach, zum einen als erwachsene Anfängerin und zum anderen als MS-Patientin mit zittrigen Händen einen vernünftigen Bogenstrich hinzukriegen. Mein Cellolehrer nimmt das an besonders „zittrigen“ Tagen mit Humor und sagt, ich brächte ja schon ganz natürlich das Tremolo mit, für das Cellisten sehr lange üben müssten. ?? Einige der noch ersten gespielten Noten sind übrigens in meinem „1000 Gesichter“-Video festgehalten.
So viele Noten, Fingersätze und Bogenstriche gleichzeitig!
Natürlich habe ich jetzt, nach rund anderthalb Jahren Unterricht, schon Fortschritte gemacht. Ich kann einige kleine Stücke spielen, bei denen wir sogar schon an Feinheiten wie forte oder piano arbeiten. Forte bedeutet im Grunde genommen, lauter zu spielen, und piano das Gegenteil. Dazu sagt mein Cellolehrer: „Jetzt wollen wir nicht nur Noten spielen, sondern Musik machen!“ Das bedeutet, ich muss den Bogen in einer variierenden Intensität spielen – UND dabei noch den jeweils richtigen Finger auf die richtige Saite setzen UND den Bogen immer weiter streichen, sonst quietscht es … Es ist also ziemlich viel gefragt, was gleichzeitig zu tun ist.
Zudem muss ich sagen, dass meine musikalische Vorbildung nicht gerade hoch ist. Ein paar Sachen sind aus der Schule hängengeblieben und vom Blockflötenunterricht – doch dass ich Noten und gar einen Bassschlüssel lesen könnte, wäre zu viel gesagt. Deshalb brauche ich auf jeden Fall noch die Fingersätze – das sind die Zahlen über den Noten. Finger 1 ist der Zeigefinger und Finger 4 ist der kleine Finger. Wenn ein x vor der Zahl steht, muss der Finger auch noch gestreckt werden, um einen Halbton zu erzeugen … Puuh, das sind wirklich viele Sachen gleichzeitig.
Aber ich spüre das Ergebnis dieses Kognitions- und Motoriktrainings jeden Tag. Fiel es mir zum Beispiel in den ersten Monaten nach der Diagnose schwer, stolperfrei Treppen zu steigen, ist das jetzt (meistens) problemlos möglich. Ich empfinde meine kognitiven Einschränkungen als viel weniger schlimm. Was jedoch zu all den Effekten in Sachen Kognition noch hinzukommt, sind die Freude und auch ein bisschen der Stolz, dass ich als Erwachsene und MS-Kranke noch lernen kann, ein Cello zu spielen, dieses herrliche Instrument. Wenn ich ein Stück fast fehlerfrei spielen kann, bei dem als Komponist Mozart steht, macht mich das sehr glücklich. Wenn ich außerdem inzwischen die Höhe des Cellos einstellen und den Bogen so spannen kann, dass es eine ganz natürliche Bewegung ist, fühle ich mich wahnsinnig wohl und freue mich, diesen Traum umgesetzt zu haben.
Ob MS oder nicht – mit ein bisschen Mut kann man auch im Kleinen etwas für sich ganz Großes schaffen.
GZDE.MS.19.01.0029
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