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Tabuthemen bei Multipler Sklerose: Rien ne va plus (nichts geht mehr)

Christian im Anzug mit kritisch hochgezogener Augenbraue

Sexuelle Dysfunktionen sind bei Multipler Sklerose noch ein großes Tabuthema. Ich möchte mit meinem offenen Umgang damit anderen MS-Betroffenen, vor allem Männern, Mut machen und zeigen, dass ein offener Umgang keinen Verlust der eigenen Männlichkeit bedeutet.

Wie wir alle wissen, ist Multiple Sklerose die Erkrankung der 1.000 Gesichter und somit auch der 1.000 Geschichten. Das bedeutet, dass es (vermutlich) keinen Mitbetroffenen gibt, der die gleichen MS-Symptome in Anzahl und Ausprägung hat wie man selbst.

Viele dieser Symptomgeschichten werden leider aber erst gar nicht erzählt, weil sie unangenehm sind, Scham auslösen und die Hemmschwelle zu groß ist, sie offen anzusprechen. Das gilt auch insbesondere für uns Männer, da wir oftmals befürchten, nicht mehr männlich oder taff genug zu sein, sobald wir über Probleme oder auch Gefühle sprechen.

Meinem eigenen Empfinden nach ist das aber nicht so! Denn durch meine offene und authentische Art gelingt es mir immer wieder, die Menschen mitzunehmen, und ich erreiche genau das Gegenteil: Man rechnet es mir sehr hoch an, dass ich auch über schwierige Themen so offen spreche.

Also kommt mit! Ich nehme Euch mit auf eine kurze Zeitreise in mein früheres Leben:

2011/12: Ich erinnere mich noch ziemlich gut an die Zeit vor meiner MS-Diagnose, als ich noch vermeintlich gesund war. Vermeintlich? Ja, denn ich hatte offenbar schon deutlich früher körperliche Einschränkungen, bei denen ich aber niemals auf die Idee gekommen wäre, dass diese Auffälligkeiten mit einer neurologischen Erkrankung in Verbindung stehen.

Mein damaliger Lebensgefährte war von Multipler Sklerose betroffen, litt zum damaligen Zeitpunkt aber unter keinerlei Einschränkungen. Ironie des Schicksals könnte man meinen. Meine eigentliche Diagnose kam dann aber erst über 5 Jahre später, im Januar 2017.

Die Beziehung ging zwar nicht allzu lang, hatte jedoch ihre schönen Zeiten. Wir sind viel unterwegs gewesen, waren mit Freunden aus und hatten diesen „Anfangszauber“, den sicherlich jeder Mensch kennt. Durch ihn habe ich erstmals hautnah erlebt, dass ein Leben mit chronischer Erkrankung fast vollkommen normal verlaufen kann. Also was hat dann nicht funktioniert? Nun …

… die Intimität damals zwischen uns lief nicht ganz so, wie ich es eigentlich gewohnt war. Ich empfand oft einfach überhaupt nichts …

Ich: „An Dir liegt es nicht, glaub mir das. Ich weiß nicht, woran es liegt …“

Mein Ex: „Das sagst Du immer, aber irgendwas kann ja nicht mit Dir stimmen, wenn Du überhaupt keine Lust auf Sex hast. Wenn ich Dir nicht gefalle, dann musst Du mir das sagen!“

Solche Diskussionen hatten wir ständig und schließlich führte genau das Ausbleiben einer gemeinsamen Sexualität auch dazu, dass wir uns trennten. Oder vielmehr, dass er mich einfach verließ, ohne darüber zu sprechen. Das tat weh.

Damals wusste ich die Ursache meiner sexuellen Unlust noch nicht. Mittlerweile weiß ich, dass der Verlust der Libido ein bekanntes Symptom der Multiplen Sklerose sein kann, darüber aber oft nicht gesprochen wird – vor allem mal wieder nicht bei Abkömmlingen des männlichen Geschlechts.

Nicht können, wie „Mann“ will …

Wie geht „Mann“ mit diesem Thema bloß um? Darüber sprechen? Um Himmels willen!

Die Angst vor Zurückweisung ist nicht gerade hilfreich, wenn man von sexuellen Dysfunktionen betroffen ist, nicht wahr? Was sollen denn der Partner, Freunde, Familie und das Umfeld bloß denken?! Das offenbart ja erneut, dass man Einschränkungen oder Schwächen hat, die einfach viel zu peinlich sind, um offen darüber zu sprechen, geschweige denn, sich mit Weggefährten darüber auszutauschen. Aber wenn wir alle diese Einstellung vertreten, wird sich niemals etwas verändern. Frauen sind beim Thema Empfindungsstörungen mit MS oft offener. Deswegen ist in diesem Kontext bereits viel mehr erforscht oder bekannt, wie es bei Frauen ist. Liebe Ladys: Danke, dass Ihr darüber sprecht!

Outing – ich mache gern den Anfang!

Deshalb habe ich mich entschieden, mich auch als Mann zu outen: Ja, ich bin selbst von sexuellen Dysfunktionen betroffen, die ich meiner Multiplen Sklerose zu verdanken habe.

Mein sexuelles Verlangen (Libido) ist jetzt seit mehr als zehn Jahren verschwunden/tot. Ich empfinde rein gar nichts mehr. Das Thema existiert nicht in meiner eigenen Gedankenwelt, es kümmert mich im Kontext zu mir selbst nicht mehr. Sehe ich das negativ? Nein, persönlich eigentlich nicht. Warum sollte ich etwas vermissen, das ich nicht empfinde?

Trotzdem macht es mich manchmal psychisch fertig und treibt mich wegen meines schlechten Gewissens in den Wahnsinn. Weil das Thema meine Ehe ungemein belastet und ich meinen Ehemann quasi vernachlässige oder durch mein Desinteresse gefühlt bestrafe.

Nur was soll ich noch alles machen? Es ist ja nicht so, dass ich bisher noch nichts unternommen hätte, um mich diesem Problem zu stellen. Der übliche Wahnsinn: Gewissensbisse, ärztliche Konsultationen und trotzdem keinen Schritt weiter. Ich habe mit vielen Neurologen, Urologen sowie auch Psychotherapeuten gesprochen. Ich habe mich einem Testosteronbluttest unterzogen, mehrere Medikamente ausprobiert und mich gezwungen, in Stimmung zu kommen. Biologisch ist alles in Ordnung, aber mein Lustzentrum kommt einfach nicht in Fahrt. Als ob es nicht mehr existiert. Selbst wenn jetzt die zehn attraktivsten Männer der Welt vor mir stehen würden, käme nicht der kleinste Gedanke in mir auf, dass ich ihnen die Kleider vom Leib reißen will …

Um offen zu sein, was sicherlich jeder Nichtbetroffener und jeder Betroffener unterschreiben kann: Ja, das ist ein Beziehungs- und Ehekiller. Denn wenn das Verlangen nur einseitig vorhanden ist, KANN das schnell in Tränen enden. Es ist nicht immer einfach.

Fehlende Forschung

Von meinen Ärzten fühle ich mich falsch behandelt und abgestempelt. Wenn eine Sache nicht funktioniert, so wird man direkt wieder in die psychische Ecke verfrachtet und damit hat sich die Sache für die Ärzte erledigt. Dabei geht es meiner Psyche supergut und ich kenne keinen Grund, der aus meiner Sicht einer psychischen Blockade entsprechen würde.

Vor allem gibt es die sexuelle Unlust als klar definiertes Symptom bei MS, jedoch oft offiziell nur bei Frauen. Da ist wieder das Problem, die Zurückhaltung der Männer. Ich finde das schade, weil es mir persönlich weiterhelfen würde, wenn andere Männer damit auch an ihre Ärzte herantreten würden. Wenn es eine größere Anzahl von betroffenen Weggefährten gäbe, würde die Forschung hier auch mal ansetzen. Denn der Sex mag mir nicht fehlen, aber es ist tatsächlich nicht die Regel, dass ein Mann meines Alters keine Lust auf Sex hat.

Fazit? Es ist nicht Eure schuld!

Sexuelle Einschränkungen ist ein sensibles und schwieriges Thema, aber es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen. Jeder Mensch hat Schwächen oder Einschränkungen. Eine verminderte Libido oder erektile Dysfunktion bildet da keinerlei Ausnahme. Und psychischen Druck auf Menschen auszuüben war noch nie förderlich, speziell dann, wenn es um sexuelle Probleme in den „Liebeshöhlen“ dieser Welt geht.

Dass „Mann“/„Frau“ mal keine Lust hat oder es irgendwie nicht klappen will, kommt auch bei gesunden Paaren/Sexualpartnern häufiger vor, als man glauben mag. Klappt es nicht, dann kann man verschiedene Dinge ausprobieren, aber eines ist noch viel wichtiger: auf Augenhöhe miteinander reden, Verständnis zeigen und nicht belehrend oder zu kritisch mit dem Partner umgehen. Ehrlichkeit und Offenheit sind keine Straftaten, sondern ein Segen des menschlichen Seins. Nutzt sie. Sprecht miteinander über Eure Schwierigkeiten und Probleme.

Selbst wenn es „nur“ andere Mitbetroffene sind, mit denen Ihr über das Thema sprecht. Wer, wenn nicht andere Betroffene, können Eure Situation gut verstehen? Traut Euch und versucht es doch einfach mal, anstatt es alleine mit Euch ausmachen zu müssen!

Kommt auch gerne auf mich zu.

Alles Gute, Christian

Bild 1: Christian entspannt lächelnd auf einer Ledercouch

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