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Taucher brauchen keine Beine!

Nicole tauchend im Wasserbecken mit Handpaddles

Es gibt Ereignisse im Leben, die vergisst man nicht: der erste Kuss, die erste eigene Wohnung, eine bestandene Prüfung, der 18. Geburtstag, die Hochzeit, Kinder, eine Traumreise. Und dann die Diagnose Multiple Sklerose. Das stellt das Leben erst mal auf den Kopf. Bei mir war das auch so. Vielleicht stand es aber vorher schon Kopf und die MS hat das Ganze nur ein wenig hin- und hergerückt. Denn meine Diagnose MS – im Mai 2017 – kam nicht alleine. Sie hatte bereits Depressionen im Gepäck sowie weitere Erkrankungen und Operationen.

Flashback – Frühsommer 2017

Nach längerer Pause hatte ich gerade wieder das Tauchen für mich entdeckt, einen Auffrischungskurs belegt und einen traumhaften Tauchurlaub mit einer Freundin geplant. Das sollte ein Neubeginn sein nach vielen Monaten, in denen ich mich mit Knie- und Rückenbeschwerden herumplagte, vor Schmerzen kaum gehen konnte. Knie-OP im März, Tauchen im November. Klang nach einem guten Plan.

Schmiede Pläne und das Leben macht eh, was es will

Es kam anders: Als ich nach der Knieoperation langsam aus der Narkose erwachte, war da plötzlich so ein Kribbeln in den Händen. In beiden. Und ständig fiel mir was aus der Hand. Die Arme wie im Ameisenhaufen, ein Gefühl wie 220 Volt, die durch den Körper jagen, Riesengänsehaut, eisige Schauer, die über den Rücken laufen, Herzrasen, Stromschläge und Zuckungen, schmerzhafte Stiche hier und da. Gehen wie auf Wattebäuschen, gefühlt auf Wolken – und zwar nicht auf der rosa Wolke und auch nicht auf Wolke sieben!

Diagnose MS mit 46

Wer denkt da an Multiple Sklerose? Mit 46 Jahren war ich auch gar nicht im üblichen „Zeitfenster“ der Diagnosestellung. Da hat mir diese Krankheit also gleich von Anfang an einige ihrer 1.000 Gesichter gezeigt: willkürlich, unbarmherzig, hinterhältig, gemein, unerwünscht und äußerst flexibel. Kann ich mit MS weiter tauchen? Mit der Diagnose MS kamen viele Fragen. Was, wenn die Krankheit schnell voranschreitet? Bleibe ich mobil? Ist Tauchen mit MS weiterhin möglich? Kann ich mit den Medikamenten überhaupt verreisen? Wie soll ich mit der Hitze und dem „Stress“ der langen Anreise klarkommen? Löst das einen Schub aus?

Eine meiner ersten Fragen, als ich nach dem Untersuchungsmarathon die sichere MS-Diagnose erhielt: „Ich möchte tauchen, geht das mit Multipler Sklerose?“ Die Antwort meines Neurologen war simpel, nüchtern und für mich mein neues Mantra: „Schränken Sie sich nicht ein.“

Nicole mit Tauchausrüstung

Yes, you can!

Das war mein Startschuss. Es hat in mir etwas gelockert, meine alten Träume wiederbelebt, mir einen richtigen Kick versetzt. Ich will und werde tauchen, komme was wolle. Die MS kann mich mal! Das geht zwar nicht immer ganz so einfach. Aber heute weiß ich: Du kannst alles schaffen! Mein Motto: Yes, you can!

Gehbehinderung und tauchen – passt!

Das Schlüsselerlebnis dazu hatte ich während einer Tauchsafari im Roten Meer in Ägypten. Wir hatten gerade eine Ruhepause, die ich auf dem Sonnendeck verbrachte. Auf dem Nachbarschiff beobachtete ich einen Rollstuhlfahrer, der sich selbstständig auf den nächsten Tauchgang vorbereitete und sich schließlich alleine in das kleine Beiboot hievte. Da hat es bei mir „Klick“ gemacht: Ja, du kannst alles machen, auch mit MS. Selbst wenn die weiter fortschreitet – ich lasse mich nicht einschränken.

Tauchen ist meine Therapie. Die schönste überhaupt!

Im und unter Wasser fühle ich mich leicht, schwerelos und zugleich mutig, frei und viel beweglicher als „an Land“. Wenn ich durchs Wasser gleite, richtet sich mein Fokus ganz allein auf die wunderbare Unterwasserwelt. Sorgen und Ängste sind wie weggeblasen, sobald ich gleichmäßig durch meinen Atemregler atme und nur noch das gleichmäßige Blubbern höre. „Schwerelosigkeit – das erlebst Du nur im All und beim Tauchen.“

Nicole im Schwimmbecken stehend und die Handpaddles hochhaltend

Tauchen mit MS – läuft!

Beim Tauchen schränkt mich die Multiple Sklerose gar nicht ein, auch nicht in meiner Mobilität. Unter Wasser sind wir eh alle gleich, egal ob mit oder ohne Behinderung. Ich brauche zwar für alles länger, weil meine Kräfte so langsam schwinden. Das liegt aber nicht nur an der MS, sondern auch an meinen jahrelangen Beschwerden in den Beinen und im Rücken. Tauchgänge vom Strand aus vermeide ich, so gut das eben geht. Lange Wege zum Wasser, noch dazu mit vollem Tauchequipment, schaffe ich inzwischen nicht mehr.

Ich schaff das schon … oder eben nicht

Was ich durch die MS endlich gelernt habe: Hilfe annehmen! Weil man mir ja meine Erkrankung auf den ersten Blick nicht ansieht, spreche ich das offen an und lasse mir helfen. Spätestens, wenn ich versuche, mich elegant ins Boot zu setzen, bin ich ohnehin aufgeflogen. Das rechte Bein ist zu schwach, somit gehe ich immer mit dem linken voran und ziehe das andere nach. Beim Ein- und Ausstieg ins Boot und wieder raus wackle ich erheblich. Was ich selbst schaffe, mache ich. Für alles andere gibt es immer einen Weg!

Nicole im Schwimmbecken mit Monoflosse und Tauchausrüstung

Eingeschränkt? Nicht mit mir!

Längere Pausen und kürzere Wege, ständige Müdigkeit, regelmäßige Arztbesuche und Blutabnahmen sowie Physiotherapie gehören jetzt zu meinem Alltag. Die Sorge, Angst und Traurigkeit darüber, künftig vielleicht weniger mobil zu sein und gar nicht mehr abtauchen zu können, habe ich inzwischen abgelegt. Lieber beschäftige ich mich mit Dingen, die mich glücklich machen. Daher möchte ich selbst so viel wie möglich übers Tauchen mit Handicap erfahren, aufsaugen, ausprobieren. Ich will wissen, wo was wie möglich ist – auch dann, wenn die MS meine eigene Mobilität ausbremst.

„Entweder wir finden einen Weg oder wir schaffen einen.“
Hannibal, Feldherr der Antike, 246–183 v. Chr.

Deshalb habe ich mein Herzensprojekt, ein Blog über das „Tauchen mit Handicap“, gestartet. Meine Motivation: Menschen mit MS oder einer anderen Behinderung zu begeistern, das zu tun, wofür sie brennen. Mut machen, mal etwas Neues auszuprobieren. Andere Taucher anstupsen, sich – wie ich selbst auch – zum Tauchbegleiter für Taucher mit Handicap ausbilden zu lassen. Ganz egal übrigens, welche Einschränkungen. Es gibt nur ein paar Ausnahmen wie zum Beispiel Asthma oder Epilepsie. Multiple Sklerose an sich ist keine Kontraindikation fürs Tauchen!

Nicole mit Rolli-Fahrer am Beckenrand im Schwimmbad

Taucher brauchen keine Beine

Das ist ja gerade das Wunderbare am Tauchen: Wer tauchen will, muss nicht laufen können. Beine brauchen Taucher mit körperlichen Einschränkungen nicht – aber Helfer. Manche mehr, andere weniger oder gar keine. Und solange meine eigene Kraft dazu reicht, werde ich andere unterstützen. Ich tauche von Herzen gern und genauso sehr liebe ich es, mit Worten zu spielen, Geschichten zu erzählen, zu schreiben. Geschichten über Taucher und Taucherinnen mit MS, mit Handicap oder ohne sowie über diejenigen, die ihnen helfen, ihre Träume zu leben.

Selbst wenn der eine oder andere daran zweifelt. Mein Engagement tut mir gut. Und es fühlt sich richtig an. Und sollte ich doch irgendwann mal im Rollstuhl sitzen – tauchen geht!

MAT-DE-2203292-1.0-08/2022