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Von alten Kamellen, Anfängen und Unsicherheiten

Multiple Sklerose Tagebuch

An dieser Stelle möchte ich zuerst einmal betonen, dass ich keine Ärztin bin, keine Krankenschwester, keine medizinische Ausbildung habe. Ich möchte auch keinesfalls sagen, dass meine Art, wie ich mit der MS oder auch mit meinem Körper im Gesamten umgehe, der richtige Weg für alle Menschen ist.

Wir alle sind so verschieden, ganz individuell. Nicht umsonst wird sie ja auch als die Krankheit der 1000 Gesichter bezeichnet. Was ich machen kann und möchte, ist, in diesen Tagebucheinträgen von meinen ganz persönlichen Gedanken, Erlebnissen und Erfahrungen mit Multipler Sklerose zu erzählen. Von meiner Reise mit meiner MS. Liest du mit?

Liebe MS, ...

... ich habe beschlossen, hier fortan nicht mehr über dich zu sprechen, sondern mit dir. Vielleicht wird das ja unserer Beziehung helfen und dich ein wenig besänftigen. Kommunikation ist so wichtig in Beziehungen und eben diese sind wir vor über dreieinhalb Jahren eingegangen. Der Wille zum Beginn dieser Beziehung war zwar recht einseitig, um es mal ganz deutlich zu sagen, aber ich hatte es schon länger kommen sehen.

Multiple Sklerose Tagebuch

Alte Kamellen

Weißt du noch, als ich 2013 auf dem Sofa saß, im Schneidersitz, mit meinem Laptop auf dem Schoß? Ich wollte aufstehen und bevor ich mich versah, lag ich auch schon auf dem Fußboden, nicht ohne zwischendrin noch schnell auf die Ecke meines Couchtisches zu fallen, die in dem Moment mit meinen Rippen ein Kennenlernen feierte. Ich feierte diesen Moment nicht. Im Gegenteil – da saß ich nun. Verwirrt und hilflos. Unfähig, meine Beine zu bewegen. Mir war es zwar schon öfter passiert, dass mein Fuß oder Bein eingeschlafen ist, was sich durch dieses unangenehme Kribbelgefühl bemerkbar gemacht hat, was die meisten von uns wahrscheinlich kennen. Bei diesem Mal hat allerdings nichts gekribbelt, zu keinem Zeitpunkt, was ich befremdlich fand.

Ich robbte mich zum Bett, um mich auszuruhen, und von da aus dann in die Küche, um mir einen Kühlakku für meine Rippen zu holen, die so unfassbar schmerzten. In diesem Moment wünschte ich mir, mein Couchtisch wäre nicht ganz so stabil und mein Gefrierfach nicht ganz so zugefroren gewesen. Zwei Meter weiter gerobbt, unter Ächzen mein Brotmesser aus der Schublade gekramt und das Eisfach freigepickt. Kühlakku rausgeholt und wieder ins Bett gerobbt. Da lag ich nun, das zweite Mal in meinem Leben unfähig, mich zu bewegen (das erste Mal war nach einer OP mit Vollnarkose). Ich kann mich nicht mehr erinnern, was in diesem Moment durch meinen Kopf gegangen ist, aber ich kann mich noch genau an dieses Gefühl der Hilflosigkeit erinnern und dass ich dieses Gefühl nie wieder in meinem Leben spüren wollte. Aber wie so oft kommt alles anders als gedacht.

Anfänge

Wie du weißt, bin ich gerade zu Besuch in meiner Heimatstadt. Ich habe lange Zeit versucht, Teile meines Lebens zu verdrängen, sie fast schon zu löschen. Bei diesem Besuch wollte ich mich aber Teilen meiner ganz persönlichen Geschichte stellen. Ich habe erkannt, dass ich erst dann Frieden in mir finden kann, wenn ich mit allen Teilen meiner Persönlichkeit, mit allen Zeitabschnitten, mit allen Erinnerungen Frieden schließen kann. Sie akzeptieren kann. Warum mir das so wichtig ist? Ich glaube ganz fest an einen Zusammenhang von dir, meiner MS, mit der emotionalen Ausgeglichenheit in mir. Du trittst immer dann ganz präsent in mein Leben, wenn ich sehr viel Stress habe, meist den der emotionalen Sorte.

So auch wie damals vor dreieinhalb Jahren, als ich die Diagnose bekam. Gerade fertig mit dem Studium, eine Trennung hinter und meine zweite Reise nach Asien vor mir. Ungewiss, was die Zukunft bringen würde. Ungewiss, was ich eigentlich wollte, und ehrlich gesagt auch ungewiss, wer dieses „Ich“ eigentlich ganz genau war. Komischerweise hast du mir in einer Zeit, die von Unsicherheit und Umbrüchen geprägt war, Sicherheit gegeben. Ich weiß, wie unwirklich und befremdlich das klingen mag. Aber als ich in meinem Krankenhausbett lag, die uns wohlbekannte Flüssigkeit in meine Venen lief und ich mein neu gewonnenes „MS-Lied“ hörte, wusste ich, dass alles gut werden wird. Dass ich stark bin. Dass mich so etwas wie eine Diagnose mit dir nicht davon abhalten wird, meine Träume zu verwirklichen. Allerdings wusste ich damals noch nicht so ganz genau, was meine Träume überhaupt sind, mal unter uns gesagt.

Unsicherheiten

Das hier ist nun mein allererster Tagebucheintrag, der an dich gerichtet ist. Ich hatte gedacht, es würde mir leichterfallen, strukturierter sein. Ich habe schon so viel ÜBER dich geschrieben, da sollten doch Zeilen AN dich kein Problem sein. Sind sie aber doch. Anscheinend habe ich dir doch mehr zu sagen, als ich eigentlich dachte. Ich habe in letzter Zeit sowieso das Gefühl, dass ich mehr Schiss vor dir habe, mehr an dich denke, mehr über dich rede, als ich eigentlich dachte – und das kommt von mir, die sich eh schon fast jeden Tag beruflich mit dir beschäftigt und sowieso viel zu oft mit dir rumschlägt, weil wir uns einen Körper teilen.

Mann, gar keinen Bock auf den ganzen Mist. Aber ich glaube, dieses verwirrte Schreiben, diese zusammenhanglosen Zeilen spiegeln gerade mein Hauptgefühl zu dir wider – Ungewissheit. Verwirrung. Angst. Zu viel Präsenz deinerseits. Deshalb fällt es mir auch so schwer, einen roten Faden hier reinzukriegen. Ich wollte dir halbwegs chronologisch erzählen, wie unsere Reise für mich angefangen hat und dann habe ich mich gestern mit einer Freundin getroffen, die ich seit x Jahren nicht mehr gesehen hatte und die mir von Situationen erzählt hat, an die sie sich erinnert, wo du schon präsent gewesen sein könntest. Wir reden hier von Situationen, die fast sechs Jahre vor der Diagnosestellung passiert sind. Gut, kann natürlich keiner so ganz genau sagen, ob du jetzt dahintergesteckt hast, dass ich an einem sonnigen Tag beim Autofahren Augenprobleme hatte oder ob das die Sonne war.

Oder ob du es warst, dass meine Hand mal gezittert hat und wir nicht wussten, was es war, oder ob das ganz andere Gründe hatte. Oder ob du es warst, die meine Beine in der oben geschriebenen Erinnerung lahmgelegt hatte. Wer weiß das schon so ganz genau mit dir? Es hat mich aber auf jeden Fall zum Nachdenken angeregt.

Multiple Sklerose Lara

Das macht mich alles ganz schön müde

Ich lege uns jetzt erstmal schlafen und wir reden dann morgen weiter. Aber bitte melde dich morgen nicht ganz so laut wie heute, okay? Ich möchte nämlich etwas arbeiten und dann einen schönen Abend mit meinen Freundinnen verbringen. Heute hast du mich echt in die Knie gezwungen und mich genötigt, eine Pause einzulegen. Ich habe echt keine Lust mehr auf Augenprobleme, ein komisches Gefühl in den Beinen und kognitive Einschränkungen. Ich verspreche dir, ich versuche, mir morgen mehr Pausen beim Arbeiten zu nehmen und dich und mich nicht zu sehr zu beanspruchen, wenn du dafür etwas ruhiger bist. Deal?

Bis morgen
Deine Lara

Multiple Sklerose schlafen

GZDE.MS.19.02.0108