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Eine Reise durch das russische Berufsleben mit MS
Ich bin in Russland aufgewachsen. Eine der Säulen der Erziehung im Sowjetischen Russland kann man gut mit dem Sprichwort „Nicht gemeckert ist genug gelobt” beschreiben. Als Kind habe ich oft geglaubt, alles falsch zu machen, und bin unsicher und ungeschickt geworden. Verzweifelt wollte ich von anderen Menschen wenigstens gemocht werden. Mit dieser Einstellung und noch als gesunder Mensch war ich auch im Berufsleben unfähig, meine Stärken zu zeigen und über eigene Wünsche zu sprechen. Bis sich vor 15 Jahren die MS in mein Leben einmischte … und das gerade rechtzeitig!
Um das zu verstehen, muss ich kurz in meine Vergangenheit zurückgehen.
Die Arbeitskräfte in Russland werden relativ schnell „geschmiedet”. Mit 22 Jahren war ich als frischgebackene und absolut unerfahrene Spezialistin für Öffentlichkeitsarbeit (PR) auf dem Arbeitsmarkt angekommen.
Die erste Stufe beim Karriereeinstieg war eine Stelle als Assistentin (damals = persönliche Sklavin) der Geschäftsführung bei einem kleinen Wein- & Spirituosen-Importeur. Da genoss ich nur meinen täglichen Schokoriegel auf dem nächtlichen Weg nach Hause. Die genauen Arbeitszeiten waren schwammig, genauso wie meine Aufgaben: von der Planung und Durchführung der administrativen Abläufe bis zur Betreuung der ganzen Familie des Chefs inklusive seiner Liebhaberin. Sein Wunsch war es dabei, dass ich bissiger werde, wie ein Höllenhund vor seiner Tür sitze und allen Angst einflöße. Ich war aber eher einer dieser dekorativen Hündchen, die in den Nullerjahren beliebt waren:
„Ein ausgezeichneter Begleiter für Menschen jeden Alters, unprätentiös, passt sich leicht an das Regime des Besitzers an. Loyal, verspielt, aber unauffällig, freundlich zu anderen Tieren, hat einen ruhigen Charakter.”

Dieser Widerspruch zwischen meinen beruflichen Wünschen und der Wirklichkeit sowie das Spielen einer Person, die ich nicht war, führten zu extremem Stress, der mir eines Nachts wortwörtlich den Kopf sprengte. Ich wachte im Krankenzimmer auf, ohne mein Gesicht und den Boden unter meinen Füßen zu fühlen. Mein erster Schub.
Es folgten Krankenhausaufenthalte und eine freiwillige Kündigung. Ohne den Schub hätte ich mich vielleicht nicht dazu entschieden.
Beim Wieder-laufen-Lernen habe ich ziemlich detailliert über meine „Bucket List” nachgedacht. Reisen, Essen genießen … alles, was die weiße Farbe von Krankenhäusern aus der Erinnerung löscht.Es war für mich der richtige Moment, gründlich darüber nachzudenken, wie es für mich mit dieser Diagnose weitergeht. Mir war klar, dass ich höchstwahrscheinlich meine größten Lebensziele nicht erreichen können würde. Klar war aber auch, dass ich mit 24 Jahren noch nicht bereit war, aufzugeben. Vielleicht ging der Weg nicht direkt und schnell zu meinen Zielen, sondern eben langsam mit Umweg.
Den Weg zum Traumberuf zu finden, war ab jetzt die wichtigste Aufgabe. ber es war eine harte Zeit in einer der härtesten Städte. Und Moskau interessiert sich nicht für deine Tränen …
Was mich zunächst erwartete, war der jährliche Nachweis meiner eigentlich lebenslangen MS-Behinderung, um die staatliche Unterstützung zu bekommen. Außerdem versuchte ich, eine Stelle zu finden, in der ich besser aufgehoben sein würde.
Das Ergebnis meiner Suche
Der Weg führte mich zum Vorstellungstermin bei der weltweit agierenden Werbe- und Marketingagentur BBDO. Die Arbeit dort war die Chance auf ein sicheres und spannendes Berufsleben, mit der Möglichkeit kreativ zu werden und vielleicht etwas zu erreichen.
Ich fühlte mich dort gut aufgehoben, verriet aber keinem mein Geheimnis mit der MS. Denn auch in einem Weltunternehmen in Moskau gilt: „Der frühe Vogel fängt den Wurm, aber die zweite Maus bekommt den Käse". Es war also wichtig, schnell zu sein, aber auch den richtigen Moment nicht zu verpassen. Wie konnte ich da mit offenen Karten spielen?!
Wer versteht schon, dass Fatigue nicht einfach nur Müdigkeit ist. Zumal ich auch gar nicht krank aussah. Meine lange Remission hatte mir leider auch die falsche Sicherheit vorgegaukelt, dass ich wie alle anderen (gesunden Menschen) bin und es schaffen kann. Aber Überstunden, oft keine Mittagspause und sehr lange Arbeitswege verursachten zu viel Stress für meinen Körper und Geist. Ich habe es nicht geschafft.
Heute denke ich, dass meine Kündigung voreilig war. Ich hätte versuchen können, meine gesundheitliche Situation mit den richtigen Worten zu erklären, und hätte vielleicht eine Teilzeitstelle aushandeln können. Leider hatte ich zu viel Angst. Es ist schon komisch: Nicht die MS, sondern ich selbst stand mir im Weg. Ich war ständig müde, konnte nicht mit Stress umgehen und musste dauernd eine Toilette in der Nähe haben. Wie konnte ich da positiv und engagiert auftreten? Es war mir peinlich, darüber zu sprechen.
Was jeder mit MS sicher auch kennt, ist die Unvorhersehbarkeit der Erkrankung: An einem Tag fühlt man sich wohl und am nächsten liegt man flach und nichts geht.
„Gottes Wege sind unergründlich”
Ich bin trotzdem eine der Glücklichen. Obwohl ich eine schubförmig remittierende MS-Erkrankung habe, habe ich eine relativ milde Form.

Und mittlerweile lebe ich in Deutschland, spreche eine andere Sprache, erziehe hier ein Kind und übe einen neuen Beruf aus. Warum einen neuen Beruf?Die MS hat mir meine bisherigen Lebensziele genommen, aber ich habe für mich neue gefunden. Ich versuche immer noch, meine Berufstätigkeit an meine Lebensumstände anzupassen, aber ich verhandele nicht mehr. Wenn es mir schlecht geht, dann erhole ich mich, ohne dabei Schuldgefühle zu haben.
Seit einem Jahr bin ich selbständige Fotografin. Es ist mein Traumberuf, den ich nicht unter Traumbedingungen ausübe. Er gibt mir viel Entscheidungsfreiheit und Flexibilität, aber auch viel Verantwortung. Ich habe mittlerweile akzeptiert, wo ich in meinem Berufsleben stehe, aber auch welche Fortschritte ich weiterhin mache. Noch bin ich mit meinen kleinen Erfolgen nicht ganz zufrieden. Ich habe noch Ambitionen, aber ich ziele dabei nicht mehr auf die Spitze des Baumes. Vielleicht ist das mit dem Alter gekommen, vielleicht ist das von der MS gekommen. Wahrscheinlich eine Kombination aus beidem.
Es ist immer noch eine Quelle der Angst – was wird die MS mit mir und meiner Arbeitsfähigkeit tun? Je älter ich werde, desto mehr spüre ich meine Angst vor der Zeit. Deshalb kann ich nicht genug betonen, wie viel mir die Unterstützung meiner Familie bedeutet. Nur mit ihrer Hilfe konnte ich den Schritt in die Selbständigkeit wagen.
Mit der MS habe ich mich gefragt, wie ich meine Zeit am besten nutzen kann. Und ich habe mich dabei für meine Familie und Arbeit entschieden. Natürlich ist das nicht nur für meinen Mann und mich so – die Frage, wie man seine Zeit am besten nutzen kann, stellt sich jede Familie. Ich finde nur, dass man mit MS weniger Handlungsspielraum hat. Alles ist ein bisschen schwieriger. Ich glaube, erst mit MS habe ich gelernt, Prioritäten zu setzen und effizient mit meiner Zeit umzugehen.
Ich würde das, was ich habe, nicht gegen etwas anderes eintauschen. Ja, das Leben mit MS kann scheiße sein, und ich würde mir wünschen, ich hätte mehr Gewissheit über meine Zukunft und mehr Möglichkeiten, meinem Man zu helfen. Aber ich kenne meine MS jetzt, gehe mit kleinen Schritten nach vorn und suche bewusst nach Vorteilen, die mein Leben mit sich bringt.
Zum Beispiel bin ich wirklich glücklich, dass ich ein Leben habe, das mir mehr Zeit für mein Kind zu Hause lässt. Ich beginne nicht früh mit der Arbeit, da ich mit der MS meinen Schlaf brauche. Diese Änderung des Lebensstils (ermöglicht durch meinen sehr unterstützenden Arbeitgeber [mich selbst]) ?) bedeutet, dass ich mein Kind mehr sehe, dass ich ein Teil des alltäglichen Familienalltags bin, und ich liebe es.
Aber wer weiß, vielleicht wendet sich das Blatt noch mal und ich werde wieder vom Leben irgendwie herausgefordert? Für so einen Fall habe ich für mich einen passenden Kalenderspruch gefunden, der mich an die Anpassungsfähigkeit der Menschen erinnert. Ich soll einfach keine Angst haben, den ersten kleinen Schritt zu machen.

GZDE.MS.20.02.0121
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