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Multiple Sklerose und Tabuthemen: Du bist nicht allein!

Frau bedeckt ihr Gesicht mit einem Hut

Sexualität, Inkontinenz, Depressionen, Erektionsstörungen, kognitive Leistungsstörungen – das alles sind nicht nur bei chronisch Kranken Tabuthemen, sondern auch immer noch in der ganzen Gesellschaft. Auch unter MSlern werden viele Themen tabuisiert – dabei ist es so wichtig, sich auch über heikle Themen auszutauschen, denn dann sieht man einmal mehr, dass man nicht alleine steht, sondern dass es anderen genauso geht.

Sexuelle Störungen – erektile Dysfunktion, vermindertes sexuelles Verlangen, Schmerzen während des Geschlechtsaktes, …

Die schönste Sache der Welt – einfach, naturgegeben, wundervoll und wohltuend und doch kann es in einem Drama enden: in einem Drama für sich selbst und eine Partnerschaft oder gar für eine zukünftige Partnerschaft!

Tabubrüche

Sexuelle Störungen betreffen sehr viele MS-Patienten und können verschiedene Ursachen haben. Oft gehen sie auf neurologische Veränderungen oder typische körperliche MS-Dysfunktionen und geistige Beeinträchtigungen zurück.

Natürlich können dabei ebenso MS-bedingte Veränderungen der Körperwahrnehmung eine große Rolle spielen. Dies wiederum bedingt oftmals, dass sich die Einstellung zum eigenen Körper verändert. Seelische und soziale Schwierigkeiten können aber ebenfalls sexuelle Störungen bei Multipler Sklerose verursachen.

Das Problem besteht erst einmal „unsichtbar“ und sozusagen doppelt: Zum einen ist es für den Betroffenen nicht schön, auch auf diesem Gebiet nicht mehr „voll funktionstüchtig“ zu sein, Schmerzen aushalten zu müssen oder eventuell auch gar keine Lust mehr empfinden zu können. Zum anderen kommt im Falle der Sexualität ja noch der Partner hinzu, der damit ja auch umgehen muss.

Auch wenn er sich im besten Fall darauf einstellen kann, ist es aber erst einmal etwas Neues und Fremdes. Des Weiteren fühlt sich der Betroffene oft minderwertig, nicht mehr attraktiv oder begehrenswert. Das ist ein psychisch ernstzunehmendes Problem.

Mit viel Glück treten sexuelle Schwierigkeiten auch nur zeitweise, etwa im Rahmen eines Schubes, auf. Allerdings können sie manchmal auch dauerhaft bestehen bleiben.

Potenzstörungen

Bei Männern ist Impotenz eine häufige Begleiterscheinung der Multiplen Sklerose. Aber Impotenz hat nicht immer einen organischen (körperlichen) Ursprung.

Impotenz ist ein Symptom, das auch durch großen Stress ausgelöst werden kann. Und nicht selten sind Männer mit Multipler Sklerose von Impotenz betroffen, obwohl keine spezielle Läsion auf diesen Bereich zurückzuführen ist und somit eigentlich die sexuelle Aktivität nicht beeinträchtigt sein „dürfte“. Das heißt zum Beispiel, dass Impotenz und sichtbare Läsionen in solch einem Fall medizinisch gesehen nicht zusammenpassen. Deshalb ist das Gespräch mit dem Neurologen, der die Läsionen ja zuordnen kann, enorm wichtig. Spätestens jetzt sollte man hellhörig werden. Man ist deprimiert über seine Impotenz und ordnet sie der MS zu, aber eventuell ist sie „nur“ das Ergebnis einer Belastung, unter der man steht.

Blasen- und/oder Darmprobleme (Kontinenzprobleme)

Eines der großen Tabuthemen: Inkontinenz! Wer möchte mit Anfang 20 gerne zugeben, dass er eine „Windel“ tragen muss oder seine Blase nur mit Hilfe eines Katheters entleeren kann? Wer möchte zugeben, dass er auch von einer Stuhlinkontinenz betroffen ist? Niemand! Selbst ältere MSler reden nicht gerne über dieses Symptom der MS – dem sie im Übrigen unverschuldet ausgeliefert sind. Dass diese Symptome die Lebensqualität erheblich einschränken können, steht außer Frage.

Eine provokante Überlegung

Würde man in einem Spielfilm, in dem es auch um Liebe und Sex geht, die „attraktive gesunde“ Hauptdarstellerin durch eine Darstellerin im Rollstuhl austauschen – wäre das für den normalen Fernsehzuschauer noch genauso attraktiv? Wohl eher selten. Manch ein Zuschauer würde sich schämen (vor was eigentlich?), andere würden es abstoßend finden und eine Minderheit würde sich daran „aufgeilen“!

Aber ob es die Mehrheit einfach so „hinnehmen“ würde und einfach über die Behinderung hinweg sehen könnte? Sicherlich nicht. Denn oft verbindet man mit seinen Helden und Protagonisten ja auch ein großes Selbstbewusstsein, eine große Selbstbestimmtheit und Überlegenheit. Die meisten Menschen würden diese Eigenschaften wohl den meisten behinderten Menschen absprechen. Wie schade, traurig und unnötig!

„Kann ein Behinderter erotisch sein? Ist es möglich, dass ein attraktiver Nichtbehinderter sich zu einem Behinderten so stark hingezogen fühlt, dass er Sex mit ihm haben möchte?“ All das sind Fragen, die sicherlich unweigerlich bei dem beschriebenen Szenario aufkämen.

Man kann nun lange spekulieren, wie es um solch eine Protagonistin tatsächlich bestellt wäre … Fakt ist jedoch, dass die rein hormonelle Entwicklung in den seltensten Fällen durch eine körperliche Behinderung beeinträchtigt sein muss.

Tabusymptome – mein Fazit

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass es für die Betroffenen sehr wichtig ist, sich auszutauschen und sich auch Rat bei Fachärzten zu holen. Einfach ist das sicher nicht, aber ich weiß aufgrund meiner Blogger-Erfahrung und der Interviews für meine Bücher, dass viele MSler von genau diesen Tabusymptomen betroffen sind.

Niemand sollte alleine sein mit diesen Themen und vor allem sollte sich jeder Betroffene bewusst sein, dass er absolut nicht alleine ist: Die meisten MSler haben solche Symptome – und doch ist das Leben lebenswert, denn wenn man es anpackt und auch mit dem Partner offen über eventuelle sexuelle Probleme spricht, ist man schon den wichtigsten Schritt gegangen, nämlich mitten hinein in die Kommunikation, und nur so kann man Verständnis entgegengebracht bekommen und sich auch professionelle Hilfe suchen. Literatur dazu gibt es ebenfalls.

Seid also mutig!

Eure Heike

MAT-DE-2202581-1.0-06/2022