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MS und Eingliederungshilfe – Interview mit Laras Papa
Mit der Eingliederungshilfe soll Menschen mit Behinderungen oder drohender Behinderung geholfen werden, sich in die Gesellschaft einzugliedern und Behinderungen zu mildern. Bloggerin Lara hat zu dieser Sozialleistung ihren Vater Ralf interviewt. Er war in seinem Fachbereich jahrzehntelang für Rehabilitationsmaßnahmen zuständig und gibt ihr einen Einblick, welche Maßnahmen und Hilfen dahinterstecken und wie die Prozesse dabei ablaufen.
Lara: Hallo! Schön, dass du dich bereit erklärt hast, mitzumachen. Ich möchte dir heute ein paar Fragen bezüglich deiner Arbeit und meiner MS-Diagnose stellen. Erkläre unseren MS-Begleiter-Leser*innen bitte erst mal, was genau deine Arbeit beinhaltete.
Ralf: Dankeschön, dass du mich interviewst! Meine Arbeit war über Jahrzehnte lang die Zuständigkeit für Rehabilitationsmaßnahmen und insbesondere auch für Menschen in besonderen Lebenslagen. Das geht, kann man sagen, von der Geburt bis ins hohe Alter und dreht sich um alles, was damit verbunden ist. Also nicht reine Lebensunterhaltsmaßnahmen wie z. B. Essen, Trinken, Bekleidung, Wohnung, sondern eben besondere Lebenslagen. Davon spricht man z. B. bei Erkrankungen, Behinderungen und Pflegebedürftigkeit.
Lara: Also sei es von Geburt an, später diagnostiziert oder durch einen Unfall verursacht?
Ralf: Eigentlich gibt es drei Grundthemen. Das eine ist eine besondere Lebenslage, bedingt durch eine Erkrankung. Das zweite ist altersbedingte Pflegebedürftigkeit und das dritte sind unfallbedingte besondere Lebenslagen. Es ist relativ selten ab Geburt.
Lara: Was genau sind Rehabilitationsmaßnahmen? Was kann man sich darunter vorstellen, vor allem, wenn man noch nie damit in Berührung kam?
Ralf: Also Rehabilitationsmaßnahmen, die die verschiedenen Rechtskreise betreffen – bei mir war die Zuständigkeit insbesondere bei der Sozialhilfe, Jugendhilfe und Kriegsopferfürsorge nach dem Bundesversorgungsgesetz gegeben –, das sind besondere Tatbestände, die im Leben auftreten können, die dann nicht von den üblichen Rehabilitationsträgern wie z. B. der gesetzlichen Krankenkasse, der gesetzlichen Unfallversicherung oder dem gesetzlichen Rentenversicherungsträger finanziert werden.
Lara: Welche Behörde ist genau dafür zuständig?
Ralf: Die Sozialämter.
Lara: Mit welchen Maßnahmen/Bewilligungen/Anträgen hattest du im Laufe deiner Berufslaufbahn am meisten zu tun?
Ralf: Die meisten Maßnahmen waren in der Form der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. Sie sind für alles zuständig, was durch die anderen oben genannten Rehabilitationsträger nicht gezahlt wird. Gehen wir mal z. B. davon aus, dass man erkrankt – dann ist erst mal die Krankenversicherung für einen zuständig. Wenn man eine längere Erkrankung hat, die gerade auch zu einer Behinderung führen kann (z. B. ein Schlaganfall, der mit einer dauerhaften Behinderung zusammenhängt), dann endet die Zuständigkeit der Krankenkasse bei den rein medizinischen Maßnahmen. Nun kann es sein, dass dieser Mensch einen Platz in einer Wohneinrichtung braucht – das muss finanziert werden.
Wenn dieser Mensch nicht die eigenen finanziellen Mittel dafür hat, dann tritt automatisch die Sozialhilfe als sogenannter Garant auf, um das zu finanzieren. Also im Rahmen der Eingliederungshilfe werden insbesondere Wohnheimplätze mitfinanziert, aber auch betreutes Wohnen. Eine sozialpädagogische Betreuung für betreutes Wohnen, die die Menschen im Alltag unterstützt, wird aus der Eingliederungshilfe finanziert. Das sind nicht die Betreuer*innen in Form der gesetzlichen Betreuung, die sich um administrative Angelegenheiten kümmern – die werden von der Justizkasse finanziert, wenn der Mensch nicht genug eigenes Einkommen und/oder Vermögen hat. Es hat Priorität, einem Menschen ein Leben im eigenen Haushalt durch externe Hilfe so lange es geht zu ermöglichen.
Lara: Hast du auch Menschen mit MS als Klienten gehabt?
Ralf: Ja, hatte ich. Im Grunde hatte ich mit allen Formen von Erkrankungen, die zu einer Behinderung führen können, zu tun. Beginnend bei Krebserkrankungen, Multipler Sklerose, Trisomie 21 – egal, welchen Ursprung die Behinderung hat, Tatsache ist, dass eine Hilfeleistung einsetzt, wenn dieser Mensch zum Personenkreis der Menschen mit Behinderungen gehört und sein Leben nicht selbst (aus eigenen Mitteln) finanzieren kann, wenn Defizite entstehen. Dann ist die Eingliederungshilfe zuständig. Die wird in der Regel unter 18 Jahren einkommens- und vermögensunabhängig geleistet, ab 18 Jahren dann in der Regel einkommens- und vermögensabhängig. Diese Grenzen sind allerdings sehr hoch, sodass sich viele Menschen keinen Kopf darum machen müssen und die volle Hilfe erhalten.
Lara: Wie ist denn der Ablauf/Prozess, wenn man Eingliederungshilfe haben möchte?
Ralf: Bevor eine finanzielle Leistung erbracht wird, wird erst mal die Zuordnung zum Personenkreis ermittelt. Das ist ganz individuell und kann man nicht pauschalisieren. Man kann sich das so vorstellen: Der Mensch, der Hilfe haben möchte, klopft an der Tür des Sozialamtes oder der Eingliederungshilfestelle. Dort wird als Erstes anhand von ärztlichen Unterlagen ein entsprechendes medizinisches Gutachten erstellt, insbesondere bei den Gesundheitsämtern vor Ort. Es muss schon ein gewisser Umfang einer Behinderung vorliegen oder eine solche drohen, bevor sich die Tür der Eingliederungshilfe überhaupt öffnet. Das kann eine seelische, körperliche oder geistige Behinderung sein. Wenn das medizinische Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass der Mensch lediglich eine einfache Form der Behinderung hat – das geht schon los bei einer Sehschwäche –, dann öffnet sich die Tür der Eingliederungshilfe nicht.
Öffnet sich die Tür der Eingliederungshilfe, dann ist das gesamte Spektrum verfügbar und man muss mit sozialpädagogischer Unterstützung in Form eines Gesamtplans (früher Hilfeplan genannt, gilt für zwei Jahre) genau ermitteln, welche Bedarfe der Mensch hat. Wenn eine Vernetzung mit anderen Rehabilitationsträgern stattfindet, z. B. mit der Krankenkasse, wird ein Teilhabeplan erstellt, da die Eingliederungshilfe dann nur ein Teil des Planes ist. Dabei spielt es überhaupt gar keine Rolle, welche Ursache diese Behinderung hat. Ob es eine MS-Erkrankung ist, eine Schizophrenie oder was auch immer spielt grundsätzlich bei der Zuordnung keine Rolle, aber dann eventuell bei den konkreten Bedarfen.
Ein schizophrener Mensch braucht eventuell aufgrund von Schwellenängsten eine/n Betreuer/in, der ihn/sie aus der Wohnung heraus begleitet. Bei einem Menschen mit MS kann es sein, dass der Mensch aufgrund einer Pflegebedürftigkeit, vielleicht ist er auf einen Rollstuhl angewiesen, eine Assistenz benötigt. Dabei kommt es auch darauf an, ob der Mensch vielleicht noch im häuslichen Rahmen ohne Rollstuhl auskommt und diesen lediglich für weitere Strecken braucht. Braucht er eine Pflegeassistenz, wird das von der Pflegekasse übernommen. Was genau die konkreten Bedarfe im täglichen Leben des Menschen sind, wo er eine besondere Unterstützung benötigt, wird individuell im Rahmen des Gesamtplanverfahrens mit einer sozialpädagogischen Fachkraft in der Eingliederungshilfe ermittelt.
Lara: Sind das dann Sachleistungen oder auch finanzielle Hilfen?
Ralf: Es sind immer Sachleistungen. Das heißt, die Betreuer*innen/Assistent*innen werden dann vom Träger der Eingliederungshilfe finanziert. Der Mensch stellt einen Antrag bei der Behörde, welcher dann geprüft wird, und es wird gemeinsam zu einem Ergebnis gekommen. Daraufhin bekommt der Mensch einen Leistungsbescheid, z. B. über fünf Stunden Assistenz pro Woche. Dann kann er mit diesem Bescheid zu einem anerkannten Assistenzdienst gehen und sich entsprechend dort die Hilfe holen oder er sagt der Eingliederungshilfe, welchen Dienst er haben möchte, und die Behörde schickt dann die Durchschrift des Leistungsbescheids zum gewählten Dienst.
Es gibt aber auch die Möglichkeit, es als sogenanntes persönliches Budget zu beantragen. Dann bekommt man Geld anstelle der Sachleistung, muss sich aber die Assistenzkraft nachweislich selber besorgen. Da ist der Stundensatz dann aber geringer.
Lara: Werden bauliche Maßnahmen, z. B. eine Verbreiterung der Türen, auch von der Eingliederungshilfe finanziert?
Ralf: Hier greift zuerst die Pflegekasse. Da ist aber der Betrag pro Maßnahme gedeckelt (bis zu 4000 Euro). Da kommt dann die Eingliederungshilfe ins Spiel, die den fehlenden Betrag finanziert, da sie nicht vom Gesetz her gedeckelt ist. Die Eingliederungshilfe leistet also häufig dazu, wenn andere Rehabilitationsträger ihre finanziellen Grenzen erreicht haben.
Lara: Wie lange kann denn eine Bewilligung eines Antrags dauern?
(wir beide lachen)
Ralf: Der Gesetzgeber hat ganz klare Fristen in den Paragrafen 14 und 15 im SGB 9 festgesetzt. Die Praxis sieht allerdings leider manchmal anders aus.
Lara: Was ging dir durch den Kopf, als ich die MS-Diagnose bekommen habe. Hast du im Kopf schon Anträge gestellt?
(wir beide lachen wieder)
Ralf: Nein, habe ich nicht. Wir haben ja schon Mal darüber gesprochen. Es war auf der einen Seite natürlich ein Schock. Auf der anderen Seite sehe ich dein Leben im Moment nicht sehr eingeschränkt. Es ist schön, dass es auch die letzten Jahre über so geblieben ist.
Lara: Das stimmt. Hast du noch abschließende Worte an unsere Leser*innen?
Ralf: Ich kann den Leser*innen, wenn sie Probleme haben, raten, sich mit der zuständigen Eingliederungsbehörde in Verbindung zu setzen. Um den eigenen Status zu erfahren, welche Möglichkeiten/Ansprüche es gibt, und sich gegebenenfalls auch Informationen über andere Rehabilitationsträger einzuholen.
Lara: Danke für deine Zeit! 😊
MAT-DE-2100680 v1.0 (02/2021)
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