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Die Liebe und Multiple Sklerose
Ich habe mir lange darüber Gedanken gemacht, ob ich über die „allgemeine“ Liebe schreiben soll oder nur über die romantische: die zwischen zwei Menschen, die in einer kalten Januarnacht auf dem Hamburger Kiez mit Zigaretten und Bier zueinander gefunden haben, wie in meinem Fall.
Vor ca. sieben Jahren, also einige Jahre vor meiner Diagnose und nach einigen Online-Dates, die mich quer durch die Stadt trieben, in fremde Wohnungen und in noch viel fremdere Betten, als ich Tinder schon zum fünften Mal gelöscht und dann wieder installiert hatte, traf ich Thomas.
Wir schrieben maximal zwei Tage, bis wir uns zum Feiern auf dem Hamburger Berg, einem alternativen Teil von St. Pauli, verabredeten.
Seit der ersten Begegnung im „Head Crash“ waren wir nur durch Dienstreisen maximal drei Tage und Nächte voneinander getrennt. Obwohl wir beide zu diesem Zeitpunkt irgendwie „nichts Festes“ wollten, fuhren wir drei Wochen, nachdem wir uns kennengelernt hatten, für eine Woche nach Holland und zogen nach drei Monaten zusammen. Nach nicht mal einem Jahr folgten Ingo, unser Hund, ein gemeinsames Tattoo (kein kitschiges Partnertattoo!) und wenig später dann das erste, gemeinsame Auto.
Love you to the moon and back – Herbst 2021
Rückblickend waren wir wie eines dieser Hipster-Pärchen – wir feierten, rauchten und tranken viel. Waren oft mit anderen unterwegs, trugen Jutebeutel, gingen auf Flohmärkte und die spartanische, aber gemütliche Einrichtung in Thomas‘ Wohnung mitten in Eimsbüttel trug dann irgendwie nicht weniger dazu bei, mich zu fühlen wie eines dieser Instagram-Paare, bei denen alles immer einfach aussieht. Altbau, bröckeliger Stuck, Matratze auf dem Boden, am Wochenende mit dem Bulli raus.
Ich hab’s geliebt und denke so gerne an unsere Kennenlern- und Anfangszeit zurück.
Was mich aber noch viel glücklicher macht, sind die vielen Umstände, die wir bisher gemeistert haben, und dass, egal wie schwierig es bisher war, wir jetzt hier, genau hier sind, wo es guttut zu sein. Zu Hause, in unserem gemeinsamen Zuhause, die dritte Wohnung, in der wir zusammenleben, mit Ingo natürlich. Wir sind angekommen und wir werden bleiben. Auch wenn wir oft von Italien träumen und uns sicher sind, vielleicht doch irgendwann für einen Teil des Jahres zwischen Florenz und Rom zu leben, ist das hier der Ort, an dem ich weinen, schreien und lachen kann. Manchmal auch alles gleichzeitig, weil ich nicht wahrhaben möchte, wie ungerecht und beschissen es manchmal ist, mit der Multiplen Sklerose zu leben. Und dass ich möchte, dass Thomas sich nicht mehr sorgen muss, wenn ich nachts nicht schlafen kann, Nervenschmerzen habe oder von meiner Infusion zu erledigt bin, um selbst nach dem Glas Wasser zu greifen.
Im Herbst 2018
Als ich im April 2018 die Diagnose erhielt und mir noch während des Gespräches in der MS-Ambulanz die Frage nach Kindern und meiner Lebensplanung im Hinblick auf eine Therapiemöglichkeit gestellt wurde, dachte ich nicht zuerst an mich. Ich dachte an uns. Ich fragte mich, wie eine Beziehung das nach drei Jahren aushalten soll, wenn man doch sein ganzes Leben von hier an nun mit einer Krankheit im Gepäck bestreiten muss.
Wir waren uns schon vor der Diagnose der Multiplen Sklerose sicher, dass wir keine Kinder möchten. Diese Entscheidung, das denken oft viele, wenn das Gespräch darauf kommt, hat nichts mit der Erkrankung zu tun. Auch Menschen, egal ob Frauen oder Männer, mit MS können genauso liebende und sorgende Eltern werden, wie jene ohne diese Erkrankung.
Das Schlimmste in der Zeit nach der Diagnose war, dass sich sowohl Thomas als natürlich auch meine sowie Thomas‘ Eltern und Familie um mich Sorgen machten. Ich hatte oft das Gefühl, dass, so stark die Liebe auch damals schon war, ich mich genau aus diesem Grund vielleicht trennen sollte. Aus Liebe zu Thomas. Wie konnte ich ihm mit Anfang 30 zumuten, mich vielleicht nur ein Jahr später im Rollstuhl durch die Gegend zu schieben? Und überhaupt: Wir wohnten damals noch im 4. Stock! Natürlich wusste ich auch da schon, dass MS nicht zwangsläufig Rollstuhl bedeutet, aber diese Ängste waren da.
Wie sehr ich meinen Partner damit verletzte, als ich das Thema ansprach, konnte ich mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen. Ich glaube, dieses Weinen und Aussprechen nach drei, vier Monaten mit der Diagnose MS brauchten wir.
Auf der Seine in Paris 2018
Natürlich kommen auch jetzt, vier Jahre später, immer wieder mal Situationen, auf die wir beide wenig bis gar nicht vorbereitet sind und/oder waren, sein können und wollen. Oft ist es für mich persönlich schwer, meine Symptome zu äußern, weil ich nicht möchte, dass Thomas sich sorgt und es ihm dadurch schlecht geht. Ich empfinde das im Austausch mit anderen Betroffenen, vor allem über Instagram, als völlig normal und ich glaube, dass diese Reaktion in einer Beziehung, in der man aufeinander achtet und sich liebt, völlig natürlich ist.
Meistens kann einem dann der Partner, die Partnerin so oft wie möglich suggerieren, dass dem nicht so ist und dass der- oder diejenige wirklich gerne für einen da ist und einen in jeder Lebenslage unterstützt. Das Annehmen fällt dennoch verdammt oft schwer.
Was mich persönlich im Zusammenhang damit wirklich verletzt, sind Sätze von Außenstehenden wie: „Du kannst wirklich froh sein, dass du Thomas hast, andere wären schon längst weg gewesen.“
Danke. Natürlich bin ich froh, aber als würde ich mir nicht mindestens einmal im Jahr selbst Gedanken um den weiteren Lebensweg machen und hier in unserem Zuhause sitzen und weinen und mich darüber auskotzen, wie gemein das ist und dass er doch jemand Unkomplizierteren an seiner Seite verdient hätte.
Wisst ihr was? „Verdient“ hat man Liebe. Ehrliche, echte Liebe und die hat man, wenn man offen kommuniziert. Wenn man sich auch mal sagt, dass es einem gerade zu viel wird und man sich auch mal allein mit Freunden trifft. Und dann abends wieder im selben Bett liegt und sich einen Gute-Nacht-Kuss gibt, der das eine oder andere Mal nach Gin und Zigarette schmecken kann, weil man das irgendwie brauchte, und morgens dann wieder zusammen aufwacht.
Ich bin seit der Diagnose sowohl ruhiger und achtsamer als auch huschiger geworden. „Hummeln im Mors“, wie wir hier in Hamburg sagen. Unser Altersunterschied von sieben Jahren macht sich dann oft bemerkbar, wenn ich wieder nicht stillsitzen kann und alles, was um mich herum passiert, aufsaugen möchte.
Ich möchte ins Museum und in den Wald. Ich möchte nach Paris und eine Woche später könnte man doch mal ein Wochenende nach Florenz? Außerdem möchte ich renovieren und Seminare besuchen und Bücher lesen, während wir eine Serie schauen. Ich möchte das Aquarium pflegen, aber Meditieren wäre auch noch schön.
Mit Thomas in Rom 2020
Das, was mir durch die MS genommen wurde, ist vor allem ein Teil meiner Kognition. Ich kann Dinge nicht mehr so schnell erfassen und habe Angst zu vergessen. Deshalb halte ich auch so viel fest. Ich weiß, dass es schwierig und anstrengend sein kann und umso dankbarer bin ich meinem Partner, dass er mich bei so vielem unterstützt, obwohl seine Prio Nummer 1 nach einer 40-Stunden-Woche nicht unbedingt das Streichen einer Wand ist, ich es aber gerne machen würde und allein nicht schaffe.
Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass die Diagnose unsere Beziehung und die Liebe nicht verändert hätte. Ich sage aber die Wahrheit, wenn ich euch erzähle, dass sie ehrlicher, tiefer und rauer geworden ist. Rau vor allem deshalb, weil Ehrlichkeit manchmal weh tut. Aber nicht dieser Schmerz, den man spürt, wenn jemand einem sagt, dass er einen nicht mehr attraktiv findet, sondern der Schmerz, der sich kurz durch den Körper bohrt, wenn einem ganz ehrlich und schonungslos gesagt wird: „Du musst mehr Pausen machen. Du kannst nicht alles auf einmal. Das geht eben nicht mehr.“
Das ist eine miese Konfrontation mit der Erkrankung, aber genau das, was ich persönlich brauche, um nicht irgendwann vor Erschöpfung nichts mehr von all dem machen zu können, was ich doch mit meinen Hummeln im Mors erleben möchte.
Für mich ist die Liebe mit einer oder sogar mehreren, chronischen Erkrankungen, aber vor allem mit der Multiplen Sklerose eine Reise.
Ein bisschen wie eben auf diesen Reise-Hipster-Profilen bei Instagram. Man weiß nicht, wohin sie führt, und manchmal muckt der Motor oder die Reifenpanne macht es einem schwer, ans nächste Ziel zu gelangen, aber im Bulli, da schläft man zusammen ein und wacht zusammen auf.
Thomas und Hund Ingo auf unserem Balkon Sommer 2021
MAT-DE-2200295-1.0-02/2022
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