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Warum ich meiner Freundin nicht helfe

Hilfe bei MS

Ich möchte diesen Artikel gerne mit der Erinnerung beginnen, wie ich meine Freundin das erste Mal traf. Wir saßen in der Bar, in die die meisten unserer westlichen Freunde in unserer kleinen Stadt gehen. Sie stellte sich mir vor und erwähnte, dass sie MS hat. Ich habe sie gefragt, was MS heißt und sie sagte mir, es steht für Multiple Sklerose (Multiple Sclerosis in Englisch). Ich wusste nicht, was das ist und dachte, dass sie vielleicht multiple Persönlichkeiten hat. Ich hatte sowas mal in einem Psychologiebuch gelesen, Schizophrenie und so etwas. Ich dachte, dass sie eine sehr ehrliche Person ist, Menschen gleich von ihrer psychischen Erkrankung zu erzählen. Gleichzeitig war ich aber auch vorsichtig, sie nicht mit meinen Worten oder Taten zu provozieren, da ich nicht mal erahnen konnte, wie sie reagieren würde. Aber diese zwei Buchstaben, MS, blieben irgendwie einige Tage lang in meinem Kopf hängen. Ich habe es gegoogelt und einen Artikel gefunden, der voller medizinischer Ausdrücke war, die ich nicht verstand. Das nächste Mal, als ich sie traf, fragte ich sie noch mal genauer, was MS ist, und sie erklärte es mir. Ich bin Südkoreaner, habe für einige Jahre in Japan und in Frankreich gelebt und hatte noch nie etwas von MS gehört. 2016 waren 2.600 Menschen von 50 Millionen Einwohnern in Korea mit MS diagnostiziert. Man könnte also sagen, MS kommt in Asien nicht so häufig vor – zumindest nicht in Südkorea.

Warum ich generell nicht sage, dass ich Menschen helfe

Seit zwei Jahren arbeite ich in einer Organisation an der thailändisch-burmesischen Grenze, die kostengünstige Krankenversorgung, Bildung sowie Schutzservices für vertriebene und an den Rand der Gesellschaft getriebene Menschen aus Burma anbietet. Obwohl es unsere Hauptaufgabe ist, diese essenziellen Dienste für Menschen in Not anzubieten, benutzen wir nicht die Wörter „Hilfe/helfen“, sondern „Unterstützung/unterstützen“.

Als Beispiel: Bekommt ein/e Schüler/in ein Stipendium durch unser Programm, sagen wir, dass wir den/die Schüler/in unterstützen, höhere Bildung zu bekommen anstatt zu sagen, dass wir ihm/ihr helfen. Wenn wir einem/r Patient/in einen Rollstuhl besorgen, sagen wir, dass wir sie/ihn unterstützen, mobiler zu sein. Auf den ersten Blick sind diese beiden Wörter gar nicht so unterschiedlich. Allerdings bedeutet Unterstützung, dass wir dem Menschen nicht die Eigenverantwortung sowie die Fähigkeit zu eigenen Entscheidungen aberkennen.

Als ich also das Thema dieses Artikels gehört hatte – Hilfe geben/Hilfe annehmen –, hat sich etwas in mir gesträubt. Versteht mich nicht falsch, aber „Hilfe geben“ hört sich für mich ziemlich krass an. Ich glaube nicht, dass Menschen, die mit AIDS/HIV leben, Hilfe brauchen – allerdings Unterstützung, z. B., um an die Medikamente zu kommen, die sie benötigen. Dasselbe gilt für MS-Patienten. Ich habe niemals gedacht, dass Menschen mit MS Hilfe brauchen. Sie brauchen aber vielleicht mehr gesellschaftliche Aufklärung über die Krankheit, sodass sie nicht immer erklären müssen, was die Symptome sind oder wie sie damit umgehen. Falls die MS fortschreitet, wird sicherlich Unterstützung gebraucht, z. B. mit passenden Medikamenten. Basierend auf diesen Gedankengängen habe ich niemals gedacht, dass ich meiner Freundin, die ich seit 2016 kenne, helfen muss.

Hilfe bei MS annehmen

Meine augenöffnende Begegnung mit einem Deutschen

Man mag sich vielleicht wundern, warum ich so denke, wenn es zum Thema „Helfen“ kommt. Um das zu verstehen, möchte ich gerne von einer Begegnung mit einem Deutschen im Sommer 2012 erzählen, welche mich dazu gebracht hat, nicht mehr das Wort „Helfen“ zu benutzen.

Ich habe als studentischer Mitarbeiter im Büro zur Betreuung internationaler Studenten an meiner Universität in Südkorea gearbeitet. Jedes Semester kamen 100 bis 200 Austauschstudenten aus der ganzen Welt an unsere Universität. 2012 hatten wir einen Studenten mit Mobilitätseinschränkungen aus Deutschland – nennen wir ihn „A.“. In seiner Bewerbung hatte A. angegeben, dass er einen Rollstuhl benutzt. Unser Team hat versucht, Seminarräume für ihn zu finden, die eine Rampe zusätzlich zu Stufen hatten oder, wenn möglich, im Erdgeschoss lagen. So sehr wir uns aber auch bemühten, wir konnten nicht alle Seminarräume für ihn umlegen. Eines Morgens, als ich auf dem Weg zu meinem Seminar war, traf ich auf A. am Fuße einer Treppe. Er sagte, dass sein Seminarraum im dritten Stock wäre. Es gab keinen Fahrstuhl in diesem Gebäude, also dachte ich kurz nach und schlug ihm schließlich vor, ihm in den dritten Stock zu helfen. Auch wenn ich nicht ganz genau wusste, wie. Er hingegen machte ein verwirrtes und überraschtes Gesicht und fragte einfach nur: „Warum?“

Was ich erwartet hatte

Offen gesagt hatte ich erwartet, dass er froh sein und sowas sagen würde wie: „Wow, danke! Ich hatte gehofft, dass jemand kommt und mir hilft!“ Aber seine Antwort war einfach nur: „Warum?“ Ich starrte ihn an, während er seinen Rollstuhl zusammenfaltete und dann auf einem Fuß die Treppe hochhopste. Das war der Moment, in dem ich realisierte, dass ich Menschen mit Behinderungen/Mobilitätseinschränkungen eventuell unterschätzt hatte. Ich dachte, sie bräuchten immer Hilfe, sonst könnten sie Dinge nicht eigenständig tun.

Natürlich spiegelt meine persönliche Erfahrung nicht alle Situationen wider oder heißt, dass wir Menschen, die vielleicht Hilfe brauchen, nicht helfen sollten. Was ich damit sagen möchte, ist, dass wir unsere innere Einstellung ändern sollten, dass Menschen mit Behinderungen immer unsere Hilfe brauchen und stattdessen einfach fragen, ob Unterstützung gewünscht ist. Älteren Menschen oder Schwangeren zu helfen ist eine Selbstverständlichkeit in Korea. Das ist tief in mir verwurzelt und es hat mir Freude bereitet, wenn ich älteren Menschen, Schwangeren oder Menschen mit Behinderungen helfen konnte, indem ich ihnen die Treppe hoch oder über die Straße half, schwere Tüten trug oder Türen aufgehalten habe, auch während ich in Frankreich studiert habe. Handeln ist besser als nur zu reden. Allerdings könnte es eine Situation schwieriger gestalten, wenn man einfach handelt ohne zu fragen, ob die Hilfe erwünscht ist.

Wenn man selbst kein Flüchtling ist, kann man nie wissen, wie man sich als Flüchtling fühlt. Wenn man nicht selbst wirtschaftlich schwach ist, kann man nicht wissen, wie sich wirtschaftlich schwache Menschen fühlen. Wenn man keinen Rollstuhl braucht, kann man nie wissen, welche Barrieren Menschen mit Rollstuhl zu meistern haben. Wir können aber weiterhin achtsam sein und stetig lernen, um Dinge besser zu machen. Wir sollten im Dialog bleiben und unsere Erfahrungen miteinander teilen.

MS, Hilf mir!

Hand in Hand

Ich kann niemals zu 100 % wissen, wie es ist, mit MS zu leben. Das Leben mit dieser Krankheit kann frustrierend sein. Es kann beängstigend sein, da die MS 1000 Gesichter, Phasen und Symptome hat. Um ein guter Unterstützer zu sein, lese ich Artikel über MS, schaue Dokumentationen und lerne von meiner Freundin, indem ich ihr zuhöre. Ich versuche, darauf zu achten, wenn sie Fatigue oder Kribbeln in ihrem Körper hat. Ich lerne immer noch die verschiedenen medizinischen Begriffe bezüglich der MS. Ich versuche, Laras Stimmungsschwankungen zu verstehen. Ich lerne immer noch, die Auffassung von MS in Asien und in westlichen Ländern zu verstehen. Ich lerne immer noch alles über die MS, um meine Freundin in ihrem Leben mit dieser Krankheit zu unterstützen. Manchmal streiten wir wegen Missverständnissen. Wir wissen immer noch nicht, ob manche dieser Missverständnisse durch die MS kommen oder durch unsere Persönlichkeiten. Ich helfe meiner Freundin nicht, sie braucht keine Hilfe. Sie braucht jemanden, der sie unterstützt, wenn sie Unterstützung braucht. Also werden wir weiterhin miteinander reden sowie voneinander lernen, um gemeinsam gegen Hindernisse anzukämpfen, die uns begegnen werden. Gemeinsam, Hand in Hand.

GZDE.MS.19.06.0359