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Gegensätze mit MS: zwischen Abgründen und Glücksgefühlen

Egal ob man selbst von Multipler Sklerose betroffen oder Angehörige:r eines betroffenen Menschen ist: Ich glaube, jede:r kennt die Gegensätze, die diese Erkrankung mit sich bringen kann.

An einem Tag denkt man, man könne alles schaffen: der Lohnarbeit nachgehen, Einkäufe erledigen, etwas mit Freund:innen unternehmen und die Wohnung putzen.

Abends fällt man mit dem Gedanken ins Bett, dass es einem doch ganz schön gut ging heute und dieses Gefühl lässt einen stolz einschlafen. Nicht selten aber sieht die Realität eines von MS betroffenen Menschen anders aus.

Ein Tag mit MS … zurück in der Realität

Morgens der kurze Körperscan auf neue Symptome:
- War das Kribbeln gestern nicht auch schon kurz beim Einkaufen zu spüren?
- Hatte ich gestern schon Schmerzen beim Bewegen des linken Auges?

Darauf die Frage: Habe ich mir vielleicht doch zu viel zugemutet?

Der Tag wird also der genaue Gegensatz zum vergangenen: Sofa, Tee, vielleicht eine warme Dusche, wenn die Kraft dafür da ist.

Haushalt? Bleibt liegen oder muss jemand anders erledigen.

Den Nachwuchs bespaßen und abholen? Muss ja irgendwie. Wie genau? Wird sich zeigen. Es muss.

Energielevel im Minusbereich – wie erkläre ich das jemandem, der nicht selbst weiß, wie sich das anfühlt? Akku leer? Blei an den Füßen? Watte im Kopf? Festplatte voll? Wie soll mein Gegenüber das begreifen? Schließlich war gestern noch alles super und ich hätte Bäume ausreißen können.

Ich finde, MS kann man sehr gut mit dem Verlauf eines Jahres vergleichen.

MS im Jahresverlauf

Frühlingsgefühle

Wer nimmt sich nicht jedes Jahr zu Silvester bei Berlinern und Wunderkerzen vor, endlich mehr für sich zu tun und merkt später, dass es mit der Anmeldung beim Yogakurs eben nicht getan ist?

Vielleicht fällt es uns in den Frühlingsmonaten noch einfacher, voller Elan genau dieses „Mehr“ für uns zu tun. Vielleicht, ja vielleicht, ist die Multiple Sklerose sogar etwas leiser als sonst. Die Temperaturen sind angenehm, der erste Urlaub des Jahres steht an. Wir sind glücklich. Vielleicht ist es genau dieses Glück, was man meint, wenn man von Frühlingsgefühlen spricht.

Sommerhölle

Der Sommer kommt. Für viele Menschen mit MS ein Höllenritt. Wenn die Temperaturen steigen, hat das Uhthoff-Phänomen viele von uns fest im Griff. Wir sind oft genau da, wo wir im Frühling nie sein wollten: im Dunklen. Mit Kühlweste und Icepacks liegen wir im Bett, auf dem Sofa oder vor dem Ventilator. Die Brust ist schwer und der Blick in die Wetter-App wird zur stündlichen Routine. Die Hoffnung: Gewitter, etwas Abkühlung. Für mehr als 80 Prozent der MSler:innen ist das die Realität.

Herbsterfrischung

Oh, September! Wie gut tun deine kühle Luft und deine noch wärmenden Sonnenstrahlen. Für uns und unsere Angehörigen bedeutet das: endlich Luft holen. Es sind die ersten gemeinsamen Spaziergänge durch buntes Laub. Nebelschwaden an kühlen Morgenden sorgen dafür, dass man leichter als noch einige Wochen zuvor aus dem Bett kommt.

Ist das Glück wieder da? Ist die „Summertime Sadness“ der „Wintertime Happiness“ gewichen?

Winterglück

Da ist die Aussicht auf Kürbissuppe und Kerzen bei der Lieblingsserie am Abend. Die Gewissheit, dass die dunkle Jahreszeit mit Lichtern, Lebkuchen und warmen Getränken nicht mehr weit weg ist. Diese Gedanken trösten diejenigen von uns, die die Sonne jetzt schon vermissen, über die Regentage und das wenige Licht hinweg – auch wenn ein Tag mal wie auf Autopilot und mit leerem Akku läuft.

So ist die MS im Jahresverlauf. Sie hat Ups und Downs.

Was „stark sein“ bedeutet

Mal wissen wir nicht, ob und wie es weitergehen wird. Wir sind verletzlich, möchten im Schneckenhaus bleiben.

Wenn man manchmal nur kurz im Bett liegt, sich die Augen zu seinem liebsten „Emo-Song“ aus dem Kopf weint und alles einfach mal „so sein“ und „fließen“ lässt, dann öffnet man nicht nur seine Ventile. Man zeigt Gefühle, öffnet seine Seele. Zwei Gegensätze vereinen sich: Wir sind stark und schwach zugleich. Verletzlichkeit zu zeigen bedeutet auch immer Stärke. Es sind unsere schwächsten Momente, die wir mit anderen Menschen teilen.

Immer in dem Wissen, dass wir schutzlos aus unserem Häuschen herausgucken. Stark zu sein bedeutet auch, um Hilfe zu bitten, wenn man das Gefühl hat, das Glück würde jeden anderen aufsuchen, nur einen selbst nicht. Wir brauchen dann einen Blick, eine Berührung oder ein warmes Wort – jemanden, der uns in Watte packt. Egal ob Partner:in, Freund:in, Elternteile oder vielleicht sogar unser Kind. Durch sie können wir ohne Angst langsam die Fühler wieder herausstrecken.

Glücksgefühle zulassen

Manchmal haben wir sowohl als Betroffene als auch als Angehörige das Gefühl, dass wir aufgrund der MS kein „Recht aufs Glücklichsein“ haben.

Wir fragen uns: Ist es okay, dass ich reise, wenn ich zurzeit keine oder wenige Symptome habe und mich darüber freue? Ist glücklich und gleichzeitig krank zu sein nicht ein noch größerer Gegensatz als Stärke und Verletzlichkeit?

Nein.

Jede:r hat das Recht, glücklich zu sein. Was uns daran hindert? Der Vergleich mit anderen. Es gibt immer Menschen, denen es – auch unabhängig von der MS – „besser“ oder „schlechter“ geht. Doch wer bestimmt eigentlich, was „besser“ oder „schlechter“ ist?

Glücklich sein muss man sich nicht verdienen, genauso wenig wie Liebe oder Wertschätzung. Jedes Glück ist so individuell wie wir selbst.

Wisst ihr, was unser Gefühl von Glück verstärkt? Mitfreude, Austausch, Verständnis.
Wisst ihr, was aber auch vollkommen normal ist? Trauer darüber, dass man bestimmte Dinge vielleicht nicht (mehr) machen kann.

Wenn du beispielsweise traurig darüber bist, dass du aufgrund eines Schubs deinen geplanten Urlaub verschieben oder stornieren musstest und deine komplette Timeline voll ist mit Urlaubsfotos und -videos von anderen.

Manchmal fällt es einem dann eben auch verdammt schwer, sich für andere zu freuen und man zieht sich vielleicht lieber einige Zeit von sozialen Plattformen zurück.
Manchmal aber sind wir die mit den Urlaubsfotos in der Timeline und erwischen uns beim schlechten Gewissen darüber, dass es anderen eben gerade nicht „so gut“ geht.

Glück und Trauer über die eigene Situation liegen bei einem Leben mit Multipler Sklerose nah beieinander. In so vielen kleinen Dingen des alltäglichen Lebens.

Jeden Tag.

MAT-DE-2205496-1.0-12/2022