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Be real: Wie ich die Schockstarre nach der Diagnose verließ und mich selbst fand

Skyline

Selbstständig, zwei kleine Kinder und MS: Wenn Unmögliches möglich wird.

Um mich herum rattert es laut. Ich bin mal wieder – ich muss „mal wieder“ sagen – im MRT. Ich wiederhole mir das, damit es Routine wird. Vielleicht. Gleich werden riesige Magneten mein Hirn auf der Suche nach neuen Läsionen durchleuchten. Diese Ungewissheit finde ich sehr belastend, doch heute kommt noch etwas erschwerend hinzu. Etwas, das grundlegender Bestandteil meines Lebens ist.

Bevor ich die radiologische Praxis betrete, checke ich noch mal mein Geschäftshandy – das ist gerade heute ein Fehler. Ein langjähriger Kunde schreibt mir: Er ist nicht zufrieden, meine Rechnung sei zu hoch, wir müssen sprechen. So ein Moment lässt für mich als Selbstständige, Mutter und seit einem Jahr MS-Kranke die Welt zusammenbrechen. Sofort stürzt alles auf mich ein: Ich kann die Miete nicht bezahlen. Ich kann meinen Beruf nicht mehr ausüben, weil ich durch die MS verdummt bin. Meine vierköpfige Familie wird zum Sozialfall. Alles ganz schrecklich.

Meine Gedanken rasen, ich betrete die Praxis und versuche, das Weinen zu verbergen – das klappt natürlich nicht. Die anderen Patienten gucken mich an und sehen schnell beschämt wieder weg. Da muss ich jetzt durch, denn diese Untersuchung ist Pflicht. Eine weitere Pflicht in meinem vollgepackten Leben. Funktionieren ist wichtig, immer weitermachen.

Diese Tiefs gibt es leider immer wieder, seitdem ich MS habe. Mein Leben wird zu einem „Ich muss“, „Ich soll“, „Keine Zeit“. Es ist sehr traurig, gehört aber zu meiner Wahrheit, mit einer unheilbaren, unvorhersehbaren und tückischen Krankheit leben zu müssen.

Unscharf

Erinnerungen an die Zeit der Diagnostik vor rund einem Jahr schießen mir in den Kopf: Ich hatte eine Sehnerventzündung und konnte auf dem rechten Auge nur schemenhaft sehen. Wer angestellt ist, wäre in meiner damaligen Situation – 6 Monate alter Säugling und diese Ausfallerscheinung –

a) in Elternzeit oder b) krankgeschrieben.

Wer aber Solo-Selbstständige, Mutter und Hauptverdienerin ist wie ich, ist selbst dann weder noch. Wer sich erlaubt, ein Freelancer zu sein, hat zu funktionieren. Darum arbeite ich in jedem Zustand: Wo ein Wille (oder eine Pflicht?) ist, ist auch ein Weg. Meine Aufträge konnte ich erledigen, indem ich die Helligkeit meines Monitors dimmte und das rechte Auge zusammenkniff. Sehnerventzündung und arbeiten: Check. Um mein süßes Baby kümmerte sich mein Mann.

Das klingt nach Irrsinn?

Dann hergehört: Es ging noch mehr. Sobald ich wieder sehen konnte, stolperte ich dank des taumeligen MS-Gangs, fiel und brach mir den rechten Ellenbogen. Ich bin Rechtshänderin. Was so ausgedacht klingt, war leider wahr – noch bevor die MS-Diagnose überhaupt ausgesprochen wurde. „Verdacht auf MS“ hieß es zu dem Zeitpunkt noch. Die neue Situation machte es nicht leichter, doch selbst mit Gips arbeitete ich – dank der Diktierfunktion.

Wenn ich über diese Zeit schreibe, klingt es so distanziert, wie ich sie erlebt habe. Denn so etwas erlebt man eigentlich nicht, so was sieht man in einem wirklich schlechten Film. Das Allerschlimmste war damals (eigentlich ist es erst ein gutes Jahr her), dass ich mich gar nicht mehr um mein Baby kümmern konnte. Mit dem gebrochenen Ellenbogen konnte ich den Kleinen noch nicht einmal hochheben. Mein Mann wurde zu seiner Mama, die füttert, tröstet und Bezugsperson Nr. 1 ist – bis heute. Die MS macht mich nicht arbeitsunfähig, aber sie hat mir mein Baby ein Stück weit genommen. Indirekt – klar. Doch so ist es.

Portraitbild von Gina mit schwarzem Oberteil

Die Veränderung

Damals war ich in Schockstarre, mittlerweile werde ich zunehmend wütend. Warum habe denn ausgerechnet ich, die als Selbstständige meine Familie ernähre, die keine Verwandten zur Unterstützung in der Nähe habe, die weder krank sein darf noch sich erholen kann, …warum kriege ich Multiple Sklerose? Eine chronische Erkrankung mit unklarem Ausgang, mit etlichen Arztbesuchen, die Zeit und Nerven kosten. Doch leider ist es wahr: Stück für Stück sickert es in meinen Kopf.

Meine ersten MRTs erlebte ich wie durch einen Schleier, das erste ohne und das zweite mit Gipsarm. Das aktuelle MRT ist anders: Allmählich beginne ich, wieder an meinem Leben teilzunehmen, auch wenn es schmerzt. Die Schockstarre rettete mich im ersten Moment, doch nach und nach löst sie sich. Das ist zwar gut, aber nicht immer leicht.

Zwischenzeitlich las ich ein Buch, das mir sehr dabei half. Der Untertitel lautete:

„Über die unbedingte Anwesenheitspflicht im eigenen Leben.“ (Mariana Leky)

Herrlich. Wahr. Hilfreich.

Ich verstand: MS hin oder her – ist sie es wert, mich von meinem Leben und meinen liebsten Kindern zurückzuziehen? Bin ich ein Roboter? Will ich einer sein? Die Antwort heißt: Nein.

Ich möchte teil- und wahrnehmen, wertschätzen, festhalten, genießen und endlich die Frage nach dem Warum. begraben. Jedes Tief verlasse ich gestärkt. Vielleicht bin ich die Resilienz in Person?

Gina mit ihren Kindern am Strand

Eine solche Erkrankung, die schlimm, aber nicht tödlich ist, eröffnet manchmal auch neue Wege. Meine Selbstständigkeit ist ein Geschenk, ich kann mir aussuchen, welche Aufträge und Kunden mir guttun und welche nicht. Wenn das Wetter schön ist (und die MS mich lässt), mache ich den Computer früher aus und gehe mit den Kindern auf den Spielplatz. Ich erfülle mir „Das wollte ich schon immer“-Wünsche. Seit einem halben Jahr spiele ich Cello – ja, auch in der Arbeitszeit. Weil ich es kann.

Besser

Das mit dem Kunden ist übrigens gar nicht so schlimm. Unsere Vorstellungen von guter Arbeit haben sich ohnehin auseinanderbewegt, es passte einfach nicht mehr. So professionell wie möglich beendeten wir die Zusammenarbeit. Viele neue, spannende und gut passende Aufträge warten auf mich – meine Familie wird definitiv kein Sozialfall. So wenig, wie ich zum MS-Roboter werde.

GZDE.MS.18.03.0180