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Die Gegenwart ist alles, was ich habe

Die Gegenwart ist alles, was ich habe

Ich glaube, dass sich das Leben, wenn man eine Diagnose wie Multiple Sklerose bekommt, von einer auf die andere Sekunde wendet. Für mich stand die Zeit erst mal still und ich habe mich in mich selbst vergraben. Ich war verängstigt, verunsichert, deprimiert. Tag um Tag saß ich auf meiner Couch – und ja, ich habe mich selbst bemitleidet. Das konnte ich wirklich gut. Ich war eine Meisterin darin, mich selbst runterzuziehen – ganz tief runter.

Ich kann mich erinnern, dass mich damals kurz nach der Diagnose die Mutter einer Klassenkameradin meines Sohnes angerufen hatte und mich fragte, ob ich bereit sei, bei einem Ausflug als Begleitperson mitzugehen. Was fällt der Frau eigentlich ein? Ich hatte plötzlich ein Ventil, war so unfreundlich zu ihr – was eigentlich gar nicht meine Art ist – und habe sie sehr schroff abgewiesen. Danach habe ich wieder eine Runde geheult. Arme Alex, du armes, armes Menschlein... Leider habe ich die Dame bis heute nie wiedergesehen und so konnte ich mich leider auch nicht entschuldigen. Vielleicht liest sie das hier, dann möchte ich sagen, dass es mir leid tut!

Natürlich hätte ich mitgehen können! Ich hätte können! Ich hätte können, wenn ich endlich mal meinen Hintern von der Couch hochbekommen hätte, wenn ich aufgehört hätte, Zeit, wichtige Zeit, damit zu verschwenden, mir selbst leidzutun! Ich hätte können... Heute kann ich, weil ich können will – so einfach ist das! Natürlich alles im Rahmen meiner Möglichkeiten und abhängig von meiner Tagesform.

Ich war zum Zeitpunkt der Diagnose 40 Jahre alt. 40, zu jung, um nichts mehr zu tun. 40 Jahre alt und ich kann sagen, dass ich einige von diesen 40 Jahren verschwendet habe. Zeit, die ich nie wiederbekommen werde, die nie mehr wiederkommt. Die Erlebnisse, die Möglichkeiten, die sich mir eventuell geboten hätten, allesamt verschwendet. Eigentlich ist das wirklich ein Grund zum Heulen... Also – was nun?

Was will ich nun mit dem Rest meines Lebens anstellen? Ich kann mich natürlich auf die Couch legen oder im Bett vergraben und mich weiter bemitleiden, davon geht aber die MS nicht weg. Ich kann auch aufstehen und mein Leben in die Hand nehmen. Auch davon geht die Multiple Sklerose nicht weg. Ich glaube aber, dass das sehr viel mehr Stil hat!

Als mir endlich wirklich bewusst wurde, dass ich nicht an, sondern mit der MS sterben werde, habe ich angefangen, meine Bücher zu katalogisieren. Aus Langeweile und weil mir meine Bücher sehr, sehr viel bedeuten. Ich wurde oft gefragt, ob ich dieses oder jenes Buch schon gelesen habe, ob ich etwas empfehlen kann, und so dachte ich mir, ich fange an, einen Blog zu schreiben! Vielleicht hilft das ja irgendjemandem weiter und wenn nicht, habe ich wenigstens für mich meine Bücher katalogisiert. Gesagt, getan, bin ja spontan und habe Zeit. Mal schauen, was daraus wird. Das war mein Neustart!

Ich habe festgestellt, dass ich Rezensionen schreiben kann, dass es mir leichtfällt. Ich bin bei Weitem keine Literaturkritikerin, will ich auch gar nicht sein, aber das Schreiben füllt mich aus, es macht mir Spaß, das ist absolut mein Ding! Von Anfang an hatte ich Leser – was mich selbst am meisten erstaunt hat – und „Thrillertantes Bücherblog“, man verzeihe mir den Namen, hat mir Möglichkeiten eröffnet und Erlebnisse beschert, von denen ich noch nicht mal zu träumen gewagt hätte.

Mittlerweile kenne ich einige Autor/innen persönlich, ich darf einen Blick hinter die Kulissen werfen, es sind Freundschaften entstanden, natürlich auch zu anderen Bücherbloggern. Das gibt mir so viel! Ich habe in einer Buchhandlung übernachtet und dieses Erlebnis werde ich niemals vergessen! Ich hatte schon öfter in meinem Leben wirklich schwere Zeiten und oft habe ich das alles nur für mich aufgeschrieben. So hatte ich es von der Seele und mir ging es besser. So habe ich begonnen, auf meinem Blog nicht nur über Bücher zu schreiben, sondern auch über die MS. Ich habe eigentlich durchweg nur positive Resonanz bekommen und war glücklich, wenn mich jemand, der auch an MS erkrankt ist, angeschrieben hat und mir das größte Kompliment gemacht hat, indem er/sie sich bedankt hat für das Mutmachen! Und dann ... tja, dann kam „Einblick“!

Ganz ehrlich, ich dachte wirklich an eine Fake-Mail! Ich soll über die MS schreiben? Ich? Warum gerade ich? Was bezwecken die? Warum? Es gibt doch schon so viele Seiten über Multiple Sklerose im Netz! Noch eine Seite, die im großen Teich sowieso untergehen wird... Nach einem Telefonat und einem darauffolgenden Workshop habe ich klarer gesehen und entschieden, dass ich das machen will! Ja, ich will das machen! Ich will es tun, weil es ganz anders ist. Anders als die üblichen MS-Seiten und ich darf mitgestalten. Endlich darf ich mithelfen, ein bisschen über MS aufzuklären, was mir so wichtig ist! Da war sie! Die Möglichkeit, endlich das, was ich aus tiefstem Herzen machen möchte, tun zu können. Ich darf schreiben, vielleicht kann ich anderen Menschen damit sogar helfen? Ein Traum! Ein Traum, der sich erfüllt hat und den ich sehr, sehr gerne lebe und möglichst lange weiterträumen will!

Das ist es, das ist mein Weg – ich habe ihn gefunden! Wie geht es weiter? Tatsächlich überlege ich sogar, ein Buch zu schreiben. Nur für mich, versteht sich... erst mal. Wer weiß, was noch passiert? Ich will keine Möglichkeiten, keine Chancen, die sich mir bieten, mehr verstreichen lassen! Für einen Neustart ist es nie zu spät!

„Die Gegenwart ist alles, was ich habe, und sie ist immer!“

 

Dieses Zitat aus Melanie Raabes Buch „Die Wahrheit“ ist es, was mir meine Träume zu leben leichter macht – weil es im wahrsten Sinne die Wahrheit ist! Ich lebe einfach das Hier und Jetzt und ich liebe es – ich bin glücklich und eigentlich ist jeder Tag für mich ein Neustart! Ich bin gespannt, was noch alles passieren wird, und ich glaube einfach an das Gute! 

Alles hat meiner Meinung nach einen Sinn – manchmal muss man eben etwas genauer hinschauen, um diesen erkennen zu können!

Die Gegenwart ist alles, was ich habe

MAT-DE-2100680 v1.0 (02/2021)