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"Hat sie schon mal was vom psychosomatischen Dreieck gehört?"

Swenja mit blauem Oberteil auf einer Stadtmauer


Meine Hausärztin schiebt mir ein A4-Blatt mit einem Dreieck rüber. Darauf stehen Worte wie Tod, Trauer, Trennung, Stress und Kündigung. "Wenn sie mindestens drei Begriffe davon erlebt hat, können wir davon ausgehen, dass ihre tauben Zehen mit ihrer Psyche zu tun haben." 

Ich gucke sie verdutzt an, drehe mich um und frage mich, wen sie wohl meint. Ah, anscheinend mich. Wer redet denn heutzutage noch mit einem in der dritten Person? Hm, ich gucke auf das Papier. Schaue wieder zu ihr. „Nein, alles gut bei mir. Ich habe überhaupt keine Probleme in meinem Leben, nur diese tauben Zehen seit zwei Wochen. Was machen wir da jetzt? Es tut ja nicht weh, nervt mich aber schon ziemlich.“ Jetzt schaut sie verdutzt. „Hm, eine Physiotherapie vielleicht? Vielleicht ist ja einfach ein Nerv bei ihr eingeklemmt, das bekommen die schon wieder auf die Reihe.“

Physiotherapien sollen mir helfen

Es ist Januar 2016 und ich habe mir auf Arbeit einen Tag freigeschaufelt, um zu meiner Hausärztin zu gehen – erfolglos. Also heißt es jetzt wohl für mich, dass ich zur Physiotherapie rennen muss – und das Ganze zweimal die Woche.

Im Mai bin ich wieder bei ihr: „Also, erst ist es ja besser geworden, aber jetzt habe ich wieder Taubheitsgefühle. Jetzt nicht mehr nur in den Zehen, sondern jetzt zieht es sich sogar bis zu meinen Knien hoch. Irgendetwas stimmt doch da nicht, oder?“

Meine Hausärztin spricht wieder nur in der dritten Person mit mir und verschreibt mir ohne Zweifel eine weitere Physiotherapie, bei der mein Steiß massiert und mit Wärme behandelt wird – doch dieses Mal bessert sich nichts und so stehe ich im Juni schon wieder auf der Matte. Doch es nützt alles nichts: Meine Hausärztin ist so versteift auf ihre Ansicht, dass sie mir nichts anderes anbieten kann als weitere Physiotherapien. Doch ich lehne ab und fahre für zwei Monate zu meinen Eltern. Dort gehe ich zu einer anderen Ärztin und denke mir, dass sie vielleicht etwas mehr wissen könnte. (Und auch, dass sie vielleicht in der Lage dazu ist, mich persönlich anzusprechen.)

Ich gebe der nächsten Ärztin eine Chance

Sie schickt mich tatsächlich sofort zum MRT – allerdings nur, um meine Bandscheibe zu kontrollieren und zu schauen, ob da alles in Ordnung ist.

Ja, sie kümmert sich mehr um mich.

Ja, sie spricht normal mit mir.

Nein, sie erkennt nicht, was wirklich mit mir los ist.

Im Juli gehe ich zum Optiker, da ich auf meinen Augen irgendwie schlechter sehe. Doch es kann nicht festgestellt werden, dass ich seit der letzten Kontrolle mehr Dioptrien bekommen hätte oder dass neue Brillengläser das ausgleichen könnten. „Ach naja, das ist dann sicherlich nur Einbildung von mir“, sage ich zu meinem Freund. Wenn ich da nur schon gewusst hätte, dass der Brillenmacher schon der vierte Außenstehende ist, der das Übel nicht erkannt hat. Er hätte mich ja wenigstens zu einem Augenarzt schicken können – doch das weiß ich leider erst später.

Weiter geht`s im September, als ich auf meinem linken Auge einen stechenden Schmerz empfinde, sobald ich stark in eine Richtung schaue. Doch ich denke, dass ich schlau bin und mache sofort in Eigeninitiative einen Termin beim Augenarzt – im Oktober. Anderthalb Monate warte ich also, jedoch gehen die Schmerzen von alleine wieder weg und ich bin anscheinend doch nicht so schlau und sage den Termin wieder ab.

Im Oktober dann komme ich beinahe jeden Tag aus der Uni nach Hause und muss mich übergeben. Die Straßenbahnfahrten sind unerträglich und mir ist dauernd schwindelig. Ich schiebe es anfangs auf den Stress, da ich das Leben an der Uni ja noch nicht gewöhnt bin, doch schon bald mache ich einen Termin beim HNO, um abzuklären, ob irgendetwas mit meinem Gleichgewichtsorgan nicht stimmt. Eine Freundin, die schon immer sehr an Medizin interessiert war, äußert den Verdacht, dass ja alles irgendwie zusammenhängen könnte. Doch komischerweise verwerfen wir diesen Gedanken schnell wieder.

Was wohl der HNO-Arzt bei mir feststellt?

Beim HNO werden nun im November meine Ohren geprüft, Luft durchgepustet und alles dreht sich. Und dreht sich. Und dreht sich. Ich muss mich darauf konzentrieren, mich nicht zu übergeben. Es wird ein sogenannter Lagerungsschwindel diagnostiziert, den ich zuerst selbst behandeln soll, indem ich mich zweimal täglich auf die Seite schmeiße, damit angeblich verrutschte Kristalle wieder in ihre eigentliche Position zurückfallen. Doch es wird nicht besser; nur schlimmer. Somit verschreibt mir der HNO eine weitere Physiotherapie, bei der dieser Schwindel behandelt werden soll.

Nach jeder Behandlung darf ich meinen Kopf 24 Stunden nicht bewegen und trage somit rund um die Uhr einen Schal, falle die Treppen in der Uni runter, gehe zu Konzerten – tanze dabei natürlich nicht – und taumele durch die Gegend wie ein betrunkener Teenager. Bei der dritten Behandlung sagt die Physiotherapeutin plötzlich: „Also, wenn taube Beine dazukommen, müssten Sie vielleicht mal zum Neurologen.“ Ich schlucke und merke, wie die Wut in mir aufsteigt. „Wieso? Ich habe seit elf verdammten Monaten taube Beine, manchmal zieht sich die Taubheit bis unter meine Brust. NIEMAND hat mir irgendwann etwas vom Neurologen gesagt.“

Endlich beim Neurologen

4. Januar 2017, ein ganzes Jahr nach meinen tauben Zehen: Ich sitze beim Neurologen und ahne Schlimmes. Kaum wurden einige Tests mit mir gemacht, heißt es auch schon: „Also, ohne jetzt ein MRT vom Kopf oder eine Lumbalpunktion gemacht zu haben, kann ich zu 99 Prozent sagen, dass es Multiple Sklerose ist.“

Jetzt, im Jahr 2018, weiß ich, was ich an meiner Neurologin habe. Schnell ergab alles einen Sinn: Mehrere Schübe im Jahr 2016, Sehnerventzündungen, Schwindel – alles kam von der MS. Man nennt sie nicht umsonst die Krankheit mit den tausend Gesichtern. Es gibt so viele unsichtbare Symptome wie die Fatigue, ein unendlich erschöpftes Gefühl, was nicht mal ansatzweise mit Müdigkeit zu vergleichen ist, oder auch eine Konzentrationsschwäche. Oft werden wir dadurch im Alltag nicht ernst genommen oder keiner bringt es mit der MS in Verbindung – doch diese Symptome sind meist die schlimmsten. Ich hoffe einfach, dass bei anderen Betroffenen die Symptome schneller erkannt und dann auch schnell behandelt werden! Aber unterkriegen lassen wir uns davon sicherlich nicht.

MAT-DE-2400244-1.0-01/2024