9 Min. Lesezeit

Eines Tages müssen wir alle sterben. Aber nicht an jedem anderen Tag

Multiple Sklerose Ernährung

Wer sich nach der Diagnose Multiple Sklerose im Leben neu orientieren muss – und das sind in der Regel alle –, der steht sehr schnell vor der Frage: „Muss ich jetzt meine Ernährung umstellen?“Wie bei vielen Fragen von MS-Erkrankten fällt die Antwort unterschiedlich aus, je nachdem, wen man denn fragt. Der Neurologe wird sagen, es gibt Studien, die den Zusammenhang von Diäten und Schubraten belegen, aber auch welche, die es widerlegen. Dein Ernährungsberater wird sagen „Das müssen Sie sowieso“, deine Mutter wird sagen: „Ich habe dir immer schon gesagt, du sollst was Anständiges essen.“

Und Recht haben sie alle drei. Ich wage hier mal eine kurze Skizze zu dem alten, wahren Spruch: „Du bist, was du isst.“ Es heißt, der menschliche Körper tauscht innerhalb von sieben Jahren jede seiner Körperzellen aus, viele Zellenarten leben sogar deutlich kürzer. Die 2011er-Ausgabe von Nils Eichberg gäbe es dann nicht mehr. Die ausgewechselten Körperzellen sind durch Atemluft und Kläranlage als Moleküle Allgemeingut geworden und finden sich heute sicher bereits in anderen Körpern wieder. Die heutige Ausgabe von mir besteht also aus dem, was Nils Eichberg seinem Körper in der Zwischenzeit als Nahrung zugeführt hat. Feststoffe und Flüssigkeiten sind schon bei Aufnahme in ihre Bestandteile zerlegt worden, die brauchbaren Moleküle sind dem Körper dann zum Wachstum zugeführt worden und die unbrauchbaren wurden in den Farben Gelb und Braun ausgeschieden.

Wo findet das nun im Körper statt? Beim MS-Patientensymposium 2017 in der Neurologie der Reha Klinik in Bad Segeberg wurde dies in einem Vortrag der Chefärztin Anna Brandt erläutert.  Wenn man das menschliche Verdauungssystem von Mundhöhle bis Anus aneinanderlegt, soll das von einer Ecke einer Sporthalle zur anderen reichen. Faltet man die Darmwand auseinander und strafft die darauf wachsenden Darmzotten, soll dies die Fläche eines Fußballfeldes ergeben. Auf diesem Fußballfeld leben Milliarden von selbstständig tätigen Organismen, die nicht nur pausenlos miteinander kommunizieren, sondern darüber hinaus auch einen sehr engen Austausch mit dem Blut und dem Nervensystem pflegen. Dieses immerhin ca. zwei Kilogramm schwere Mikrobiom soll in seiner Zusammensetzung deutlich komplexer sein als die gesamte Pflanzen- und Tierwelt der Erde zusammen. Frau Dr. med. Klarissa Stürmer trug im Symposium vor, dass weltweit diverse Forschungsgruppen an einer Kartierung dieser menschlichen Innenwelt arbeiten. Erst wenn sie wissen würden, mit wem sie es eigentlich zu tun haben, könnten sie beginnen zu fragen, wer da was mit wem wann und warum eigentlich macht. Wir stünden also am Anfang.

Deswegen sind wir aber nicht unwissend. MS ist nur eine von vielen möglichen chronischen Autoimmunkrankheiten. Das Immunsystem wendet sich gegen den eigenen Körper und behandelt Teile von diesem als Eindringling. Befällt es die Haut, hast du Neurodermitis, befällt es den Darm, hast du Morbus Crohn. Ist die Krankheit in den Gelenken, wird sie Arthritis genannt, ist sie im zentralen Nervensystem, heißt sie Multiple Sklerose. Viele der Ernährungsempfehlungen bei MS müssten also auch für alle Autoimmunkrankheiten gelten und gerne haben MS-Erkrankte noch ein zweites Problem mit Entzündungen.

Bei allen diesen Krankheiten geht es also um entzündliche Prozesse und genau hier greifen die meisten mir bekannten Ernährungsempfehlungen. Ich beziehe mich im Folgenden auf Patienteninformationen der Segeberger Kliniken, auf Gespräche, die ich mit Heilpraktikern und Ärzten geführt habe, und auch auf diverse Diskussionen über Ernährung in deutschen oder internationalen MS Communities darunter die Kommunikationsplattform „MS Connect“ der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft.  In diesen Quellen wird oft unterschieden zwischen Bestandteilen unserer Nahrung, welche Entzündungen hemmen sollen, und solchen, die Entzündungen fördern könnten. Die ersten gilt es für uns zu vermeiden, auf die zweiten sollten wir besonders achten.

Möglicherweise entzündungsfördernd:

Hoher Zuckerkonsum
In dem Flyer des Klinikums Bad Segeberg „Ernährungsempfehlungen bei Multipler Sklerose“ mit Stand März 2016 ist der Zusammenhang gut erklärt: Die Einnahme von Zucker steigert die Insulinkonzentration im Blut. Insulin bildet dann entzündungsfördernde Arachidonsäure. Ich habe nach meiner Reha den Zuckerkonsum langsam runterdosiert. Erst einen Würfel Zucker in den Kaffee, dann ganz weggelassen. Cola trinke ich auch nicht mehr, nicht nur wegen des Zuckers. Ich bin umgestiegen, erst auf Saft, dann auf Wasser. Während der Reha hat mir eine recht korpulente Ernährungsberaterin mal sehr drastisch geschildert, wie die Zuckerkristalle in jeder Beuge deiner Blutbahn von innen an der Aderwand kratzen, wenn der Bluthochdruck sie dagegen schleudert.

Hoher Salzkonsum
Im gleichen Informationsblatt wird auf Salz eingegangen. Die Einnahme von Salz soll danach Abwehrzellen mobilisieren, welche dann entzündliche Prozesse fördern. Wie beim Zucker habe ich mich auch hier langsam runterdosiert. Beim Kochen habe ich weniger Salz verwendet, schnell waren mir daraufhin die meisten Fertiggerichte viel zu salzig. Nüsse esse ich pur und nicht geröstet und nicht gesalzen. Habe ich Nüsse über und trotzdem Lust auf Knabbern, verzichte ich auf Chips und nehme stattdessen Sesamstangen.

Gesättigte Fettsäuren tierischen Ursprungs
Schon während der Behandlung meiner entzündlichen Hautprobleme erklärte mir mein damaliger Arzt den Zusammenhang zwischen Blutfettgehalt und Entzündungsneigung. Gesättigte Fettsäuren tierischen Ursprungs, zum Beispiel in Vollmilch, Butter, Käse, Wurst und Fleisch enthalten, steigern die Blutfettkonzentration und sollen dadurch Entzündungen hervorrufen. Ich lasse immer mal wieder meine Cholesterinwerte checken und vergesse auch nicht die nicht minder relevanten Triglyceride. Hier war die Umstellung von lieb gewonnenen Essgewohnheiten mit am schwierigsten, das wird bei euch nicht anders sein. Aber bis zu eurem Lebensende habt ihr ja noch reichlich Zeit.

Transfettsäuren aus teilgehärteten Fetten und Frittierfetten
Für diese Kategorie von Fetten soll das Gleiche gelten. Ich habe noch von keiner Diät auf der Welt gehört, die diese Form von Fetten zur dauerhaften Ernährung empfiehlt. Welcher Teil deines Körpers soll aus der nächsten Portion Pommes mit Mayo gebildet werden?

Eisen
Rotes Fleisch enthält große Mengen an Eisen, das soll eigentlich gesund sein. Die schon erwähnte korpulente Ernährungsberaterin wies mich aber darauf hin, dass bei großer Hitze wie während des  Bratens und Grillens mit dem hochreagierenden Eisen gerne andere Stoffe entstehen, wie zum Beispiel Nitrosamine, die dann schädigend wirken sollen. Da ich zu diesem Zeitpunkt bereits auf Fleisch verzichtet hatte, brauchte ich mich nicht weiter umzustellen. Der sparsame Verzehr von rotem Fleisch wird heutzutage bereits Grundschulkindern empfohlen.

Ernährung thailändischer Junge

Möglicherweise entzündungshemmend:

Omega-3-Fettsäuren
Auch der Unterschied von Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren begegnete mir schon bei der Behandlung meiner Neurodermitis. Diese besonderen Fettsäuren sollen entzündungshemmende Botenstoffe bilden. Sie finden sich in fettreichem Seefisch wie Lachs, Hering, Makrele und als vegetarische Variante in Rapsöl, Leinöl und Walnussöl. Hier kommen auch die berühmten Fischöl- Kapseln ins Spiel. Mein Arzt sagte mir damals: „Eskimos kennen weder Schuppenflechte noch MS.“

Radikalfänger
Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft versendet in der Reihe „Selbsthilfe im Alltag“ kostenfrei Broschüren an MS-Erkrankte. Exemplar H-03 beschäftigt sich mit Ernährungsratschlägen bei Multipler Sklerose und ist von Dr. med. Dieter Pöhlau und Prof. Dr. med.  Dietmar Seidel verfasst. Zum Thema Vitamine findet sich dort ein wichtiger Hinweis. Durch Entzündungen entstehen reaktive Stoffwechselprodukte, sogenannte freie Radikale. Diese verursachen in Zellen einen sogenannten „oxidativen Stress“. Freie Radikale werden im Körper normalerweise durch unterschiedliche „Radikalfänger“ neutralisiert. Gehirn und Rückenmark sind sehr anfällig, weil sich im Nervengewebe sehr wenig Radikalfänger befinden. Unsere Nahrung ist die einzige Quelle für Radikalfänger, auch „Antioxidantien“ genannt. Genannt werden in der Broschüre Vitamin C, D, E und das später hier noch genannte Carotin, eine Vorstufe des Vitamin A.

Vitamin D
Ohne auf einen spezifischen Zusammenhang zur MS einzugehen, zählt die Patienteninformation  der Segeberger Kliniken mehrere Vitamine als entzündungshemmend auf, darunter als Erstes Vitamin D. Ratten können angeblich ihr eigenes Vitamin C produzieren, das können wir mit Vitamin D, aber nur unter Sonnenlicht. Deswegen gehe ich auch im Winter jeden Tag an die frische Luft. Vitamin D kommt ebenfalls in Fisch vor, den ich auch als „Halb“-Vegetarier jede Woche auf dem Speiseplan habe. Vitamin D ist derzeit Thema in vielen Gesundheitszeitungen. Ich habe meinen Vitaminspiegel daraufhin beim Neurologen messen lassen und er war tatsächlich weit unter dem Durchschnitt.

Vitamin E
Soll sich in pflanzlichen Ölen und Getreidekernen befinden. Hier allerdings warnt der Ratgeber vor Sonnenblumenöl und Maiskeimöl, diese sollen Omega-6-Fettsäuren enthalten, die eher wieder die gegensätzliche Wirkung entfalten sollen und entzündliche Botenstoffe entstehen lassen.

Vitamin A/Beta Carotin
Schon meine Großmutter hat mir beigebracht, dass rotes und oranges Gemüse nicht nur gut für Haut und Augen, sondern eben auch für die Nerven sein soll. Ich kenne viele Genossen und Genossinnen, die trinken jeden Morgen ein Glas Karottensaft. Bei mir ist es ein Glas Rote-Beete-Saft, nicht jedermanns Sache.

Vitamin B12
Schon auf der Packung im Drogeriemarkt wird Vitamin B12 mit den Nerven in Verbindung gebracht. Enthalten in Milchprodukten und Fleisch, möglichst aber ohne das in Milch enthaltene Fett – ideal finde ich da Magerquark.

Selen und Magnesium
Sind zwei Spurenelemente, deren Mangel einen Einfluss auf die Gesundheit des Nervensystems haben soll. Magnesium nehme ich zusätzlich zu mir, weil es eindeutig gegen Muskelanspannungen und Krämpfe hilft. Enthalten sind diese Vitalstoffe in Fisch, Vollkornprodukten und Nüssen.

Nahrungsergänzungsmittel
Den einzigen, für mich interessanten Hinweis für MS-Kranke zum Thema Nahrungsergänzungsmittel fand ich 2017 in einem Internetbeitrag von Prof. Dr. med. Mathias Mäurer. (
www.ms-docblog.de/multiple-sklerose/propionat-und-die-rolle-des-darms) Er referiert dort in dem üblicherweise schwer verständlichen Ärzte-Deutsch über einen Stoff namens Propionat und die Rolle des Darms. Laut Mäurer ist in einer Max-Planck-Studie von 2011 mit vollständig keimfreien Mäusen nachgewiesen worden, dass eine Darmflora Bedingung für die Entstehung einer autoimmunen Entmarkung des Nervensystems ist. Weitere Studien sollen dann ergeben haben, dass weniger die Mikroorganismen selber, sondern ihre Stoffwechselprodukte Effekte auf die Darmflora und auch direkt auf Immunzellen haben. Die Aufnahme von faserreicher Kost (die berühmten Ballaststoffe) führt zur Produktion von kurzkettigen gesättigten Fettsäuren wie Acetat, Butyrat und Propionat. Es ist mir nicht möglich, die Kernaussage des Textes von Professor Mäurer zu übersetzen, daher zitiere ich hier: „Funktionelle Studien zeigen, dass die Zugabe von Propionat zu T-Zellen in Kultur die Frequenz regulatorischer T-Zellen erhöhte und gleichzeitig die Frequenz proinflammatorischer Zellen reduzierte. Ähnliche Beobachtungen fanden sich in vivo nach Gabe von Propionat im MS-Modell mit einem abgemilderten Verlauf und einer Reduktion von Entmarkung und Axonschäden.“

Propionat findet sich in Krustazeen, umgangssprachlich Schalentiere, und wurde bis in die 1990er Jahre in der Brotproduktion verwendet. Es ist also als Nahrungsergänzungsmittel zugelassen und im Internet auch erhältlich. Oft wird es als Nahrungszusatz für Hauskatzen angeboten. Beweise für die Wirksamkeit gibt es derzeit noch keine, trotzdem wird das Mittel mittlerweile von vielen MS-Kranken eingenommen. Langfristig könnte es eine interessante Ergänzung zu bestehenden Therapien werden, wenn in Studien ein positiver Effekt auf die MS gezeigt werden kann.

Trinken
Erwähnen möchte ich kurz noch das Thema „Trinken“. Viele MS’ler haben Probleme mit der Blasenkontrolle und planen ihre Aufenthalte außerhalb der eigenen Wohnung sehr penibel, um jederzeit eine Toilette in der Nähe zu haben. Einige versuchen dem Problem zu entgehen, indem sie schlicht und einfach nicht oder zumindest zu wenig trinken. Mir wurde berichtet, das würde sich auf Dauer mit erhöhter Anfälligkeit für Harnwegsinfekte rächen. Ich selbst musste bei der Behandlung meiner Psoriasis lernen, dass ich viel zu wenig getrunken hatte. Die Haut bekommt nämlich erst dann ihre Flüssigkeit, wenn alle anderen Organe sich schon bedient haben. Da ist dann oft nicht mehr viel übrig.

Soweit mein derzeitiger Wissensstand. Wenn ich jemandem gefragt oder ungefragt eine Ernährungsempfehlung gebe, ruft diese in der Regel Stress und Trotz hervor.

Ich hör euch schon:

„Da kann ich mich ja gleich aufhängen!“

„Ich esse, was mir Spaß macht. Basta!“

„Wie soll ich das denn meinen Kindern erklären?“

Leute, es ist euer Körper, ihr habt euch diese Krankheit angelacht und niemand weiß, warum. Autoimmunkrankheit. Auto heißt selbst. Immunis heißt frei, unberührt. Dein Körper macht, was er will, auch wenn es dir nicht passt. Aber er kann es nur mit dem, was du ihm dafür zur Verfügung stellst.

Mach es ihm nicht zu leicht.

GZDE.MS.18.10.0814