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Wie ist es, wenn die beste Freundin plötzlich MS hat?

Arm in Arm am Strand dem Sonnenuntergang zuschauen

Marie und ich kennen uns schon fast unser ganzes Leben lang. Wir haben uns in der ersten Klasse kennengelernt und sind schnell Freundinnen geworden. Wir haben über die Jahre so viel zusammen erlebt und teilen uns neben unserem gleichen Vornamen – wir heißen beide Marie – einen riesigen gemeinsamen Erinnerungsschatz. Uns verbindet eine sehr enge Freundschaft, wir sind wie Schwestern.

In den Kindheits- und Jugendtagen sind wir mit ihrer Mutter oder meinen Eltern oft gemeinsam in den Ferien in den Urlaub gefahren. So auch im Frühjahr 2006, als wir mit Maries Mutter und ein paar weiteren Freund*innen und Musiker*innen auf Mallorca waren.

Marie und Marie zusammen als Kinder

In dieser Konstellation waren wir schon häufiger dort gewesen. Zu diesem Zeitpunkt waren Marie und ich 15 Jahre alt. An einem sonnigen Tag waren wir am Strand in Cala Santanyi. Es ist ein eigentlich sehr harmonischer und schöner Ort: türkises Meer, Sandstrand, Pinienbäume und für uns bedeutete es endlich wieder Sonne nach dem kalten und dunklen Hamburger Winter.

Seitlich der Bucht war es möglich, einige Stufen hochzugehen, und wir zwei wollten die Gegend erkunden. Beim Herabsteigen der Stufen sind Maries Beine weggeknickt, sodass sie hinfiel. Einfach so, aus dem Nichts. Mein erster Gedanke war, dass sie gestolpert sei. Sie hatte ein komisches, taubes Gefühl im Fuß und im Bein. Wir fanden das seltsam, aber haben dem erst einmal nicht zu viel Aufmerksamkeit geschenkt.

Marie und Marie im Urlaub zusammen am Pool

Nach ein paar Tagen wiederholte sich das Ganze in unserer Unterkunft, als sie die Treppe hinunterging. Ihre Beine ließen sie erneut im Stich und sie fiel ganz plötzlich hin. Langsam machten wir uns schon mehr Gedanken. Was war los? Hatte sie sich vielleicht einen Nerv eingeklemmt? Wir sind am gleichen Tag noch in ein Krankenhaus zum Notdienst gefahren. Zum Glück hatten wir jemanden mit dabei, der perfekt Spanisch sprach und der den Mitarbeiter*innen im Krankenhaus verdeutlichen konnte, was passiert war. Sie haben Marie untersucht, aber wussten auch nicht weiter und wir fuhren somit unverrichteter Dinge zurück in unsere Unterkunft.

Marie und Marie lachend heute

Am nächsten Tag sind wir zurück nach Hamburg geflogen. Dort kam Marie ins Krankenhaus und wurde komplett durchgecheckt. Es folgte eine Untersuchung nach der anderen, Marie und ihre Mutter wurden über Risiken aufgeklärt, Behandlungszimmer wurden gewechselt und Marie wurde nur noch mit einem Rollstuhl durch das Krankenhaus gefahren. Sie so zu sehen, war sehr hart für mich.

Eigentlich war sie immer total fit und sportlich. Auch der Bruch war heftig. Eben noch hatten wir ein paar unbeschwerte Tage im Urlaub genossen. Nun saßen wir in diesem kahlen Krankenhauszimmer und Marie ging es so schlecht. Ich war sehr besorgt und es war mir klar, dass die Lage sehr ernst war.

Die Zeit der Ungewissheit war am schlimmsten

Die Zeit, bis die Diagnose kam, fühlte sich für mich persönlich wie eine Ewigkeit an. Es zog sich ins Unendliche. Ich fühlte mich extrem machtlos und habe Marie so oft im Krankenhaus besucht wie möglich. Bei einigen Untersuchungen war ich mit dabei und bin während einer Untersuchung auch in Ohnmacht gefallen. Es war eine extrem intensive Zeit. Ich hatte Angst um sie und war auch mit dieser neuen Situation überfordert. Faktisch betrachtet kam die Diagnose MS recht schnell, doch gefühlt war es eine Ewigkeit.

Die Diagnose war ein Schock

Marie war 15, als sie die Diagnose MS bekam. Die Diagnose war natürlich ein Riesenschock. Eigentlich wusste ich über die Krankheit zu diesem Zeitpunkt kaum etwas und kannte niemanden mit MS. Ein wirklich gruseliger Zufall war, dass Marie und ich in einem vorherigen Urlaub auf Pellworm gemeinsam einen Roman gelesen hatten, in dem ein Mädchen die Diagnose MS bekam. Das war mein allererster Berührungspunkt mit der Krankheit gewesen, doch die Krankheit war da noch ganz weit weg.

Nach und nach habe ich mehr über MS gelernt. Marie und ich haben immer offen über alles geredet. Marie war ja selbst auch dabei, alles über ihre neue Krankheit zu lernen. Ich hatte nie das Gefühl, dass es da Bereiche geben könnte, die Tabu sind und zu denen ich sie nicht etwas hätte fragen können. Diese offene Kommunikation war für uns sicher wichtig, auch um uns in dieser neuen Situation zurechtzufinden.

Die MS ist da und wird von selbst nicht wieder gehen. Es ist ok, wenn es seine Zeit dauert, das zu akzeptieren.

Die Jahre danach waren, nett formuliert, „schwierig”. Das richtige Medikament für Marie musste erstmal gefunden werden. Sie hatte viele Schübe, die kurz hintereinander auftraten. Der eine ging, der nächste kam. Sie war oft im Krankenhaus und ich habe versucht, so gut wie es ging, für sie da zu sein, aber letztendlich fühlte ich mich total machtlos.

Auch als ein passendes Medikament gefunden wurde, war es ganz klar, dass wir bei Verabredungen letztendlich immer schauen mussten, ob die Treffen überhaupt möglich waren. Es war eine neue Situation, in der wir als Teenager eine ganz neue Vernunft an den Tag legen mussten. Es war ein wichtiger Prozess zu lernen, dass Marie ganz besonders auf ihren Körper hören und auf sich selbst achtgeben muss.

Am Anfang fand ich es sehr schlimm, wenn Personen mich „Wie weit ist sie?” gefragt haben, wenn ich von Maries Krankheit erzählt habe. Ich fand es beängstigend, weil ich mich selbst am Anfang noch nicht so gut mit der Krankheit auskannte. Mein Eindruck ist, dass noch immer viele Leute denken, dass jede*r MS-Patient*in gewisse Phasen der Krankheit durchläuft und zwangsweise im Rollstuhl sitzen wird.

Heute kann ich anderen viel besser erklären, dass jeder Verlauf individuell ist und MS nicht umsonst „die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern” heißt. Marie hat vieles durchgemacht, unter anderem wieder neu laufen gelernt, und auch wenn es ihr ganz besonders in der Anfangszeit der Diagnose gar nicht gut ging, hat sie eine wahnsinnig positive Art und Weise, mit der Krankheit umzugehen. Das hat es auch für mich deutlich leichter gemacht, die Krankheit zu akzeptieren und auch den Fakt, dass sie nicht einfach wieder weggehen wird. Durch Maries Engagement und ihre Aufklärungsarbeit hilft sie auch anderen MS-Patient*innen und gibt ihnen Halt und Hoffnung. Ich bin sehr stolz auf sie und die Art, in der sie mit ihrer Krankheit umgeht. Ihre Arbeit dazu finde ich so wichtig, denn ein gutes Leben mit MS ist möglich, auch wenn die Diagnose erst einmal ein herber Schlag ist.

Heute ist es schon 16 Jahre her, seit Marie die Diagnose bekommen hat. Die vielen Höhen und Tiefen haben unsere Freundschaft und das Band zwischen uns nur noch stärker gemacht. Wir sind uns stetige Begleiterinnen über die Kindheit, die Jugend, das Erwachsenendasein – und sicher auch noch, wenn wir alt und grau sind. Die MS gehört heute einfach dazu.

Marie und Marie lachend heute

MAT-DE-2106241-1.0-01/2022