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Neustart mit MS: Liebes neudiagnostiziertes Ich …

„Das möchte ich dir mitgeben: Mach das, was gut für dich ist, genau jetzt. Denn vielleicht lässt diese MS es dich genau jetzt tun …“ schrieb ich auf meinem MS-Blog garnichtkrank.de am 22. März 2018. Zu diesem Zeitpunkt war meine Diagnose aber schon mehr als ein Jahr her: Ich erhielt sie im Februar 2017. Mein zweites Kind war da etwa acht Monate alt.

Beim Auftreten der ersten Symptome war der Kleine viereinhalb Monate alt. Jetzt, im Dezember 2022, ist der heute Sechsjährige schon seit einem halben Jahr ein Schulkind. Und der Große, zu Beginn meiner Reise mit MS ein Kindergartenkind, geht jetzt aufs Gymnasium.

Mein großer Hund, mein wichtiger Seelentröster in diesen verwirrenden ersten Jahren, ist seit einem Jahr im Hundehimmel.

Und ich? Immer noch ich – noch immer mit MS. Aber noch immer schubfrei … seit drei Jahren keine neuen Läsionen im MRT. Meine Neurologin sagte bei der Besprechung des letzten MRTs: „Sie haben wirklich sehr viele Läsionen. Aber es sind keine neuen hinzugekommen und Sie scheinen mit Ihrer MS sehr gut klarzukommen.“

Und da komme ich auf meinen 2018 geschriebenen Satz zurück: „Mach das, was gut für dich ist, genau jetzt.“ So lebe ich seit meiner Diagnose, aber ohne jemals meine Pflichten vernachlässigt zu haben, ohne eingeknickt zu sein.

Ich habe immer gearbeitet, aber auch zwischenzeitlich eingesehen, dass es an der Zeit ist, einen anderen Weg einzuschlagen. Dass die Selbstständigkeit doch etwas viel ist, dass bezahlter und vor allem mehr als einwöchiger Urlaub pro Jahr richtiger wäre. Daher bin ich zwar noch immer Redakteurin, aber seit zwei Jahren eine angestellte. Dabei habe ich mir aber erlaubt, sorgfältig zu wählen, die wenigsten Festanstellungen werden jemandem gerecht, die sieben Jahre Freelancer war! Und die manchmal Tage hat, an denen Leistungsfähigkeit eine unbekannte Vokabel ist.

Gina kurz nach ihrer MS-Diagnose

Meinem neu diagnostizierten Ich (ni) von vor fünf Jahren, dessen Leben Kopf stand, das mit einem frisch gebrochenen Ellenbogen im Gips im MS-MRT lag und das zeitgleich nahezu in Existenzangst versank, möchte ich einiges sagen:

Als du deinen Blog gegründet hast, schriebst du: „In den Monaten, die auf meine MS-Diagnose folgten, handelte ich wie ein Roboter. Ich funktionierte. Irgendwie. Von dem erwarteten unbeschwerten Glück, nun zwei wundervolle Kinder zu haben, blieb nicht so viel übrig.“

Liebes ni, es war vollkommen richtig, dass du „wie ein Roboter“ warst. Das war dein ureigener Schutzmechanismus. Und es war gut, dass dieser einsetzte, anstatt dass du in Panik geraten wärst. Denn dann wäre dein Leben aus den Fugen geraten! Es war gut und richtig, dass du dich an deiner damaligen Verantwortung, deine Familie zu ernähren, entlanggehangelt hast! Du hast funktioniert.

Aber dabei hast du noch etwas anderes getan, das dich dahin geführt hat, wo du fünf Jahre später im Bewältigungsprozess stehen würdest: Du hast dabei immer das getan, was du in diesem Moment für genau richtig gehalten hast – oder was du schon immer tun wolltest. Das war schon ziemlich früh im Bewältigungsprozess das Cellospielen. Ein schon lange gehegter Wunsch wurde wahr. Und hat dabei dein Gehirn und deine Motorik so richtig auf Trab gehalten.

Gina kurz nach ihrer MS-Diagnose beim Cellospielen

Fünf Jahre später wirst du nicht mehr Cello spielen. Denn du tust stattdessen etwas anderes, was dir so guttut, wie es nur etwas kann: Du reitest wieder, und zwar dreimal pro Woche. Du wirst Kraft haben, Balance und Ausdauer. Und du tust, was du liebst: Pferde um dich haben, versorgen, betüddeln und draußen sein.

Am Anfang der MS, als sie hochaktiv war, hattest du Bedenken und Probleme beim Runterlaufen einer Treppe. Das weiß ich noch ganz genau. Das wird weg sein, auch wenn du es dir jetzt nicht vorstellen kannst. Du wirst voller Freude mit einem 60 kg schweren Lastenrad durch den Verkehr Hamburgs radeln und ohne Probleme dein Gleichgewicht halten. Du wirst dich stets fordern und dir viel aufbürden. Du wirst Rehas und Kuren ablehnen, weil sie nicht in dein tempostarkes Leben passen.

Den Kopf voller Läsionen gehst du weiterhin den acht bis zehn Kilometer langen Hundespaziergang mit. Zwar inzwischen mit einem anderen Hund – aber du läufst. Was du aber auch gelernt hast, ist: „Stopp“ zu sagen. Wenn deine Beine doch einmal schwächeln, wirst du es deiner Gruppe sagen und du wirst eine Sitzpause machen können. Ohne schlechtes Gewissen und Selbstgeißelung.

Weil du in deiner Festanstellung niemandem von deiner MS erzählt haben wirst, wirst du froh sein, eine Corona-Infektion gehabt zu haben. Denn du wirst deine Wortfindungsstörungen auf den verbliebenen Corona-Brainfog schieben können. Und jeder wird Verständnis haben. So kann eine zunächst verhasste Seuche, die auch dein Leben ordentlich aus den Fugen werfen wird, für dich ganz persönlich noch etwas Gutes haben.

Denn eines möchte ich dir nicht verschweigen: Deine Angst vor kognitiven Einschränkungen wird deine Geißel bleiben. Du wirst auch fünf Jahre später, und stets etwas mehr, Angst vor Verwirrtheit haben und Angst davor, deinen geliebten Beruf nicht mehr ausüben zu können.

Was wird dabei dein Anker sein? Du wirst weiterhin beruflich erfolgreich sein, denn du wirst schon richtig viel Berufserfahrung haben. Du wirst so genau wissen, was du tust, dass du auch an einem Tag, der im Brainfog zu versinken scheint, beste Ergebnisse produzieren kannst.

Du wirst mit deinen kognitiven Defiziten durch die MS umgehen können, dir Brücken bauen, Work-arounds haben. Die MS wird nicht mehr so präsent sein. Sie wird ein ungeliebter, aber natürlicher Teil von dir sein, denn umso mehr Jahre ihr miteinander verbringt, desto blasser wird deine Erinnerung an dein früheres Ich werden.

Liebes ni, es wird, lasse dir Zeit und lebe dein Leben. Es wird ein anderes sein, du wirst nicht mehr weit vorausplanen, du wirst mehr im Hier und Jetzt leben. Es wird dir egal sein, ob du ein eigenes Haus hast oder ob du irgendwelche nichtigen Besitztümer dein Eigen nennst. Deine Prioritäten werden sich verschieben, aber das ist vollkommen okay und vielleicht sogar ein Vorteil.

Was den meisten erst mit dem Alter blüht, wirst du schon früh hinter dir haben: den Abschied von eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen. Es wird hart, aber du wirst es bewältigen und an dieser Stelle eine Freiheit, eine Weisheit, ein Darüberstehen besitzen, das andere in deinem Alter noch lange nicht haben.

Du wirst gelassen sein und Wichtiges von Unwichtigem glasklar unterscheiden können. Und allmählich erkennen, dass du nicht nur gestraft bist mit deiner MS. Glaube an dich, du wirst es schaffen.

Ginas Porträt kurz nach ihrer MS-Diagnose kannst du dir in ihrer Tausend-Gesichter-Folge anschauen: Gina – Neudiagnose Multiple Sklerose ( Link: https://youtu.be/xa0DVopFUSU )

Ginas Porträt kurz nach ihrer MS-Diagnose kannst du dir in ihrer Tausend-Gesichter-Folge anschauen: Gina – Neudiagnose Multiple Sklerose

MAT-DE-2200295-1.0-02/2022