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Das Chanel-Phänomen
" Du siehst ja gar nicht krank aus! Es ist nicht so schlimm mit deiner MS, oder? "
Wie ich das hasse …
Wenn ich eine Skala erstellen müsste mit den meistgehörten Sprüchen über meine Erkrankung, dann stünde dieser Spruch ganz weit oben.
Wie habe ich auszusehen? Wie sieht überhaupt jemand aus, der an Multipler Sklerose erkrankt ist? Muss ich multipel krank aussehen?
Das ist Quatsch, Menschen werden unsicher, wenn jemand eine doch recht schwere Erkrankung hat und man sieht es ihm nicht an. So nach dem Motto:
" Ey, wie kannst du mich so verunsichern? Mach dir gefälligst ein Schild um, damit ich gleich weiß, woran ich bin! Ich dachte doch echt, du wärst gesund! "
Das klingt doch irre, oder? Aber es ist tatsächlich GENAU SO!
Jahrzehntelang hätten sich an mir diverse Modemacher die Zähne ausgebissen, das ist alles an mir vorbeigegangen. Klar, in den Achtzigern hatte ich auch Bundfaltenhosen und Oberteile mit Schulterpolster im Schrank, aber im Wesentlichen bestand mein Kleiderschrank aus Jeans und Shirts.
Nun habe ich keine großen Figurprobleme, aber trotzdem hat mich Mode nie interessiert.
Das änderte sich recht drastisch nach der Diagnose. Ich hatte keinen Geistesblitz, aber ich wollte plötzlich gut aussehen. Ich wollte mich schick anziehen. Ich wollte mich verändern.
Mein Kleidungsstil änderte sich von heute auf morgen. Ich kaufte plötzlich nur noch Röcke.
Recht kurze Röcke. Mit fast fünfzig.
Die Shirts wurden figurbetonter. Wo ich früher einfarbige, gerade geschnittene schwarze Shirts bevorzugt habe, sind sie heute tailliert und recht farbenfroh. Meine Kollektion an Strumpfhosen ist beeindruckend: Ich bin für jedes Wetter, jede Jahreszeit, mit jeder Farbe gerüstet.
Heute laufe ich durch Boutiquen, schaue mir Neues an, überlege, ob es mir gefällt, probiere an, drehe mich vor dem Spiegel.
Das wäre mir früher nie eingefallen.
Aber warum?
Weil mir meine Mitmenschen die MS nicht ansehen oder nicht ansehen sollen?
Ich mag einfach manchmal diesen Mädchenkram. Lippenstifte sind auch so ein Ding! Früher hätte ich nie einen Lippenstift angefasst, heute gehe ich fast nie ohne aus dem Haus. Ich besitze sogar so ein Chanel-Dingelchen.
Aber warum?
Ich denke da schon länger drüber nach. Ich habe für mich herausgefunden, dass mir die Beschäftigung mit Mode guttut. Dazu kommt, dass mein Mann und ich supergerne bummeln und shoppen gehen. Er ist da sehr geduldig und auch interessiert. Hab ich ein Glück!
Erstmal tut es mir gut, aber es gibt noch andere Möglichkeiten:
- Oder will ich verdecken, was wirklich in mir vorgeht? So wie man eine schöne Decke über ein kaputtes Sofa legt?
- Oder ist es Trotz, weil mein Umfeld meint, wenn man MS hat, muss man auch so aussehen?
- Oder sage ich tatsächlich: „Hey, guckt her, trotz MS geht’s mir richtig gut.“
- Oder will ich einfach nicht, dass mein Umfeld etwas merkt und Fragen stellt?
Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Ein Phänomen gibt es allerdings: Je schlechter es mir geht, umso sorgfältiger achte ich auf mein Outfit.
So als würde man eine Tagesdecke über hässliche und kaputte Bettwäsche ziehen. Ich bin ein offener und sehr ehrlicher Charakter, das ist nicht immer leicht für meine Mitmenschen, aber wenn es um mein Befinden geht, werde ich zur Auster. Niemand weiß von meinen Tiefen. Ich ziehe meine Tagesdecke immer glatt. Und oben drauf kommt mein Chanel-Dingelchen.
Wenn also Chanel zum Einsatz kommt, dann liegt mein darunter liegendes Ich am Boden.
GZDE.MS.19.09.0668
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