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Über die (Un-)Sichtbarkeit

Ist Ms wirklich Un-Sichtbar?

Unsichtbarkeit ist jener Zustand, in dem ein Gegenstand, eine Substanz oder eine Strahlung für das menschliche oder tierische Auge nicht wahrnehmbar ist. Bei der Unsichtbarkeit im engeren Sinne handelt es sich um physikalische Umgebungsbedingungen, unter denen ein normalerweise sichtbarer Gegenstand für Menschen nicht mehr erkennbar ist. (Wikipedia)

Unsichtbar sein – ein vielfach metaphorisch benutzter Begriff. Ob in Romanen, Gedichten, Prosa, vielbemühten Zitaten. Die Unsichtbarkeit wird, namentlich genannt, dann doch sehr sichtbar. Unsichtbar aber ist so vieles. Menschen in der Großstadt zum Beispiel, die sich im Strom der Passanten bewegen, die in U-Bahnen ein- und aussteigen. Da mag das Hasenkostüm noch so schrill oder die Frisur noch so prägnant sein – sie gehen unter, werden unsichtbar in all der Gleichgültigkeit.

Unsichtbar bleiben deshalb auch all die Geschichten, die Schicksale, die jeder Einzelne dieser urbanen Unsichtbaren in sich birgt. In der U-Bahn stelle ich mir manchmal vor, dass jeder Mensch Gedankenblasen über seinem Kopf trägt, die sein Unsichtbares präsent machen. Wäre die Bahn dann voll? Oder doch überraschend leer? Oder wie wäre es, wenn jeder der Unsichtbaren eine Liste auf seinem Rücken trüge, mit allem, was für ihn – oder natürlich auch sie – Leid oder Schmerzen bedeutet? Das wäre interessant, denn die Frage ist: Würde unsere Leistungsgesellschaft so etwas überhaupt akzeptieren (können), wenn Betroffene ganz offensiv mit ihren Leiden nach außen gingen, die sonst niemanden „belästigen“ würden? Oder müssten Betroffene ihre geschulterte Leidensliste deshalb zensieren?

Die Liste des Unsichtbaren

Ich persönlich glaube ja, meine Liste, die an meinem Rücken haftet, wäre gekürzt dadurch. Da passt es, dass so viele (meiner!) MS-Symptome nicht sichtbar sind. Denn so muss ich mich nicht rechtfertigen, sprich: mich nicht der Tatsache stellen, dass meine Leiden und Einschränkungen real sind, obwohl sie nach außen nicht sichtbar sind. Auf ein Gipsbein und Krücken sprechen andere dich an – denn das ist sichtbar, nachvollziehbar, gesellschaftlich akzeptiert. Denn ein Bein brechen kann sich ja jeder mal.

Sollte es aber dazu kommen, mitten in der Rush Hour des Lebens von einer unheilbaren, chronischen Erkrankung heimgesucht worden zu sein (wie unpassend), sie sichtbar zu machen, sie in Worte zu kleiden … dann verschließt sich das Gesicht des Gegenübers, schweift der Blick ab. Das zeigt: Bisweilen oder doch eher meistens ist die Sichtbarkeit gar nicht erwünscht. Da ist es ja beinahe gut, dass sich vieles der MS verstecken lässt. Klar, manchmal müssen für die gewünschte Unsichtbarkeit die Zähne fest zusammengebissen werden, aber das hat man ja, wie oben erwähnt, in seinem Leben in dieser Gesellschaft schon ausgiebig geübt. Dann geht das schon.

Ungünstig ist natürlich, wenn das MS-Symptom sich unerwartet zeigt. Wenn es ganz plötzlich sichtbar ist. Wenn mitten im Satz das Wort plötzlich nicht mehr herauskommen will. Oder gleich ganz weg ist. Oder wenn auf einmal die tausendmal betretene Stufe zu hoch ist für die eigenen Füße. Dann müssen wir von einer Sichtbarkeit sprechen, wie sie plötzlicher und unpassender nicht sein kann. Denn dann gibt es leider keine Kontrolle mehr, ob sichtbar oder nicht. Das entzieht sich der Willenskraft und auch allen Errungenschaften, egal welcher gesellschaftlichen Prägung. Dann steht man nämlich einfach da, sich entblößt und hilflos fühlend. Leugnen gibt es nicht mehr, wenn die MS, die Fehlbarkeit des Körpers, die Sterblichkeit, der Kontrollverlust auf einmal sichtbar sind. Bämm.

Da hilft es nur, den Blick auf alles Weitere (Positive?) zu richten, das die Unsichtbarkeit ebenfalls beinhalten kann. Dazu gibt es ein beliebtes, weil wahres – oder nun doch zu diskutierendes? – Zitat zur Unsichtbarkeit:

 “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.”

(Antoine de Saint-Exupéry) 

GZDE.MS.19.04.0282