Physiotherapie oder Ergotherapie: Was brauche ich eigentlich?

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Physiotherapie oder Ergotherapie: Was brauche ich eigentlich?

Krankheitsbedingte Einschränkungen musst Du nicht einfach so hinnehmen. Mit der richtigen Therapie kannst Du viel erreichen und Dir ein gutes Stück Lebensqualität erhalten oder gar zurückgewinnen. Aber was ist die richtige Therapie für Deine Symptome? Brauchst Du Ergotherapie? Oder Physiotherapie? Oder beides? Wir erklären Dir den Unterschied.

Grundsätzlich haben Physio- und Ergotherapie unterschiedliche Ziele, auch wenn sich ihre Maßnahmen zum Teil überlappen.

  • Physiotherapie leitet sich vom griechischen Wort „physis“ ab, was Natur oder Körper bedeutet. Das Ziel der Physiotherapie ist also, die natürlichen Bewegungsabläufe und die Funktionsfähigkeit der Gliedmaßen wiederherzustellen oder zu verbessern. Sie konzentriert sich darauf, Deine Mobilität und Kraft zu verbessern sowie Schmerzen zu lindern.
  • Das griechische Wort „ergon“ bedeutet Werk oder Arbeit, dementsprechend fokussiert sich die Ergotherapie darauf, Deine Handlungsfähigkeit zu fördern. Im Unterschied zur Physiotherapie geht es also nicht darum, von der MS betroffene Gliedmaßen zu trainieren, sondern Dir Wege aufzuzeigen und zu üben, Deine Selbstständigkeit im Alltag zu bewahren. Die Ergotherapie bezieht dabei die Angehörigen genauso ein wie diverse Hilfsmittel und wird an Deine gegenwärtige Lebenssituation angepasst.

Sprich mit Deinem Arzt, was für Dich geeignet ist. Er kann beide Therapieformen bei Bedarf verschreiben. 

Physiotherapie

Gehen, Stehen und Laufen erfordern die komplexe Zusammenarbeit vieler verschiedener Muskeln und Nerven. Bei der MS ist dieses Zusammenspiel oft gestört und diese Bewegungen fallen manchmal schwer. Auch feine Tätigkeiten mit den Händen, wie Schreiben oder das Handy bedienen, können beeinträchtigt sein.

Hier setzt die Physiotherapie an. Sie zielt darauf ab, die Kraft zu fördern, die Koordination zu verbessern, Schmerzen zu lindern und Fehlbelastungen bzw. Fehlhaltungen zu reduzieren. Dazu werden verschiedene Techniken eingesetzt. Um das richtige Therapiekonzept für Dich zu finden, wird ein Physiotherapeut zunächst Deine individuelle Situation erfragen und sich Deine Einschränkungen genau ansehen.

Je mehr er über Dich weiß, über Deine Einschränkungen, Deinen Alltag und Deine möglichen Bedenken, desto besser kann er Dich unterstützen. Zudem untersucht er sogenannte Leitsymptome: Spastiken, zentrale motorische Schwächen, Koordinationsstörungen, Wahrnehmungs- und Sensibilitätsstörungen und die Fatigue.

Die Physiotherapie wird speziell an Deine Bedürfnisse angepasst.

Es gibt viele verschiedene Therapiekonzepte, die unterschiedliche Schwerpunkte haben. Wir erklären hier drei wichtige, die bei MS oft zum Einsatz kommen können:2

  • Das Bobath-Konzept baut auf die Flexibilität des Gehirns, der sogenannten Plastizität, auf. Bestimmte Nerven im Gehirn führen bestimmte Tätigkeiten aus. Wenn sie geschädigt sind, kommt es zu Einschränkungen und Funktionsverlust. Mit dem richtigen Training können andere Gehirnbereiche lernen, die Aufgaben der beschädigten Nerven zu übernehmen. Dazu werden Übungen mit den betroffenen Körperteilen häufig wiederholt, um im Gehirn neue Verbindungen zu knüpfen.

  • In der manuellen Therapie werden Gelenke mobilisiert und Blockaden gelöst, mit dem Ziel, die Beweglichkeit zu verbessern und Schmerzen zu lindern. Dabei kommen spezielle Handgriff- und Mobilisationstechniken zum Einsatz.

  • Die PNF (Propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation) stimuliert sogenannte Rezeptoren in Gelenken und Muskeln, die dem Gehirn die Position und Ausrichtung der Gliedmaßen melden. Dies ist wichtig für Koordination und Gleichgewicht. Die PNF fördert das Zusammenspiel zwischen diesen Rezeptoren, den Nerven und den Muskeln, damit diese gut zusammenarbeiten und so alltägliche Bewegungen leichter fallen.

Bei der Physiotherapie ist Deine Mitarbeit gefragt, denn der Physiotherapeut kann Dir die Arbeit nicht abnehmen. Er wird Dir Übungen zeigen und mit Dir die korrekte Durchführung trainieren. Wichtig für den Erfolg ist jedoch, dass Du diese Übungen so oft wie möglich durchführst. Das bedeutet, dass Du nicht nur in der Physiotherapie-Praxis übst, sondern auch zu Hause und in Deinem Alltag. Genauso wichtig ist es, für Dich das richtige Maß zu finden. Ganz nach dem Motto: fordern, aber nicht überfordern. Du solltest Deine Grenzen akzeptieren, aber auch daran denken, dass Inaktivität Einschränkungen verstärken kann.

Ergotherapie

Menschen mit MS haben im Alltag oft mit Herausforderungen zu kämpfen. Selbst die sogenannten Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL = Activity of Daily Living) wie Zähneputzen, Knöpfe schließen oder Einkaufszettel schreiben können zwischenzeitlich Probleme bereiten. Hier setzt die Ergotherapie an. Sie zielt darauf ab, Dich gut durch Dein Berufs- und Alltagsleben zu bringen und wird ganz individuell an Deine Ansprüche und Dein Umfeld angepasst.

Die Ergotherapie schließt alle Bereiche des Lebens ein und wird individuell zusammen mit Dir erarbeitet.

Dazu werden zunächst unangenehme, unsichere oder schmerzhafte Bewegungen identifiziert und dann durch Abläufe ersetzt, die für Dich angenehmer sind, Kräfte sparen und betroffene Körperteile entlasten. Ein Beispiel: Wenn das Aussteigen aus dem Auto Schmerzen bereitet oder die Gefahr besteht, dass Du aufgrund von Koordinationsstörungen stürzt, kann es helfen, sich erst einmal ganz nach außen zu drehen, sodass beide Füße auf dem Boden aufsetzen. Wenn Du dann aussteigst, tragen beide Beine das Gewicht und Du stehst stabiler. Die Ergotherapie hilft Dir dabei, solche unterstützenden Verhaltensweisen zu finden und zu üben.3

Weitere Aufgaben der Ergotherapie in Deinem Alltag4

  • Die Ergotherapie hilft auch beim Umgang mit Hilfsmitteln, die Dir Dein behandelnder Arzt eventuell verschrieben hat. In erster Linie denkt man da wahrscheinlich an einen Rollstuhl, doch gibt es viele andere nützliche Gegenstände, die Dir das Leben erleichtern. Die Ergotherapie bezieht den Einsatz dieser Geräte mit ein und trainiert mit Dir den richtigen Umgang.
  • Außerdem hilft die Ergotherapie Dir, Dein Umfeld zu optimieren. Zum Beispiel, dass in der Küche häufig verwendete Lebensmittel und Gerätschaften gut erreichbar sind und nahe beisammen gelagert werden.
  • Manchmal kann es auch sinnvoll sein, gemeinsam mit dem Ergotherapeuten einen Tagesplan zu entwickeln, der realistische Ziele setzt und Dir ausreichend Zeit zur Erholung lässt.

Voraussetzung für den Erfolg der Ergotherapie ist es, Übungen regelmäßig zu trainieren, auch wenn es anstrengend ist. Die Auswahl daran ist groß. Sie reicht von Neurofeedback über Hand-Augen-Training bis hin zu Gedächtnis-, Konzentrations- und Reaktionsübungen.

Ergotherapie im Arbeitsalltag

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Ergotherapie ist es, Deine Arbeitsfähigkeit zu erhalten oder wiederzuerlangen, soweit dies möglich ist. Mithilfe der sogenannten MELBA-Klassifizierung (Merkmalsprofile zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit) kann ein Ergotherapeut beurteilen, ob Du bestimmte Tätigkeiten noch ausüben kannst. Basierend darauf wird er dann zusammen mit Deinem Arbeitgeber einen Plan erstellen, ob und wie Dein Arbeitsplatz umgestaltet werden kann. Außerdem kann der Ergotherapeut Dir helfen, Arbeitsabläufe individuell so zu gestalten, dass die Arbeitsbelastung nicht übermächtig wird.5

Das Ziel der Ergotherapie ist es, Dir einen möglichst unabhängigen und selbstbestimmten Tagesablauf zu erlauben – sowohl im Privaten wie im Beruf. Es ist daher hilfreich, offen mit Deinem Ergotherapeuten zu sprechen, dann kann er die Therapie genau auf Dich abstimmen.

Quellen:
1 www.vpt.de/fileadmin/user_upload/news/heft_pdf/VPT-01-2017-Physiotherapie_bei_Multipler_Sklerose-Seiten_16-17.pdf, letzter Zugriff: 24.11.2020.
2 www.physio-deutschland.de/patienten-interessierte/wichtige-t.herapien-auf-einen-blick.html, letzter Zugriff: 24.11.2020.
3 www.dmsg.de/multiple-sklerose-infos/ms behandeln/rehabilitationsverfahren/ergotherapie/, letzter Zugriff: 24.11.2020.
4 www.apotheken-umschau.de/Ergotherapie, letzter Zugriff: 24.11.2020.
5 Rao, S. M., Gary, J. L., Bernardin, L. & Unverzagt, F. (1991a). Cognitive dysfunction in multiple sclerosis. I. Frequency, patterns and prediction. Neurology, 41, 685–691.

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