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Umgang mit der MS-Erkrankung in Russland: Olgas Erfahrung

Olga mit ihrem Sohn und Katze

Zum Umgang mit Erkrankungen habe ich einen für mich selbst sehr treffenden Spruch gehört: Wenn Menschen sich in der westlichen Welt schlecht fühlen, gehen sie zu einem Psychologen, Menschen aus dem östlichen Teil der Welt ziehen sich tief in sich zurück und Russen gehen Freunde besuchen. Wahrscheinlich würden die Russen auch zum Psychologen gehen, aber erst, wenn beide anderen Varianten nicht helfen. Übrigens hat man mich mit der Beschreibung gut getroffen.

Die Widersprüche in der russischen Seele

Zunächst muss man dazu sagen, dass das russische Volk kein rein europäisches und kein rein asiatisches Volk ist. Russland ist ein ganzer Teil der Welt, ein riesiger West-Ost-Raum, der zwei Welten verbindet. Die kulturellen Unterschiede in den Regionen spiegeln die zugrunde liegenden Merkmale des jeweiligen menschlichen Zusammenlebens wider.

Der Westen Russlands ist eher rational, der Osten eher emotional, spirituell und die Menschen sind gerne gesellig. Vermischt man diese West- und Osteigenschaften im alltäglichen Leben, dann sieht man oft eine tragikomische Widersprüchlichkeit: Eine russische Person geht zum Arzt, bekommt eine Diagnose und ein Rezept. Für alle Fälle geht er oder sie dann noch zu einer Wahrsagerin oder einem Medium. Man glaubt an Medizin, an Gott und ist dazu noch abergläubisch. Es ist, als ob man sich irgendwie nach allen Seiten absichern möchte. Und ja, nach meinem ersten MS-Schub habe ich das auch so getan.

Meine Heilerin hat mich damals gebeten, 149-mal einen Satz aufzuschreiben. Der Satz war irgendetwas in die Richtung, dass ich gesund bin, keine Krankheit mich kriegt und Ähnliches. Im Endeffekt war das nichts anderes als eine Art der Selbsthypnose oder ein Mantratraining. Etwa 50-mal habe ich den Satz aufgeschrieben und dann aufgegeben. Weil ein echter Russe noch eine andere, fürs Überleben wichtige Eigenschaft hat: die Faulheit.

Wie hat es jemand mal so schön formuliert: „Es gibt keine unüberwindlichen Schwierigkeiten für einen Russen. Es gibt nur Schwierigkeiten, für die er zu faul ist, sie zu überwinden.“ Vielleicht war es auch eine intuitive Faulheit, die zeigte, dass ich den Rest meines Verstandes nicht verloren habe. Interessant wäre, ob auch Menschen aus anderen Ländern auf Zauberei hoffen?

Olga im Osten von Russland

Dieses Bild zeigt mich am Baikalsee in Sibirien, im Osten von Russland, wo noch ein starker Glaube an Geister und die Kraft der Natur besteht. Die Burjaten (das Urvolk der Region) haben hier heilige Orte, die man an Bändern und Tüchern erkennt, die dort an Bäume und heilige Steine gebunden werden. Das soll Glück und Wohlsein bringen.

Der Umgang mit Multipler Sklerose in Russland

Die Krankheit „Multiple Sklerose“ hat die Russen im Gegenteil zu COVID-19 nicht plötzlich überrascht. Sie hat sich angeschlichen. Im Russland vor 16 Jahren hatte man Probleme mit der Diagnostik von MS und Menschen lebten jahrelang mit der Erkrankung, ohne es zu wissen. Meine eigene Diagnose war das Ergebnis der Hartnäckigkeit meiner Eltern. Einfache Menschen um mich herum hatten keine Ahnung von dieser Krankheit. Es gab keine Info-Hefte, keine Fernsehberichte und keine Gruppen in sozialen Netzwerken wie heute. Also tastete man sich im Dunkeln vor und hoffte, dass die Ärzte wussten, was sie taten.

Es gab dabei noch eine Besonderheit: tabuisierte Gesprächsthemen wie unter anderem auch unheilbare Krankheiten oder schwerbehinderte Menschen. Tatsächlich, egal welches Land man nimmt, sind nach meiner Erfahrung Verständnis, Mitgefühl und Einfühlungsvermögen oft eher Eigenschaften gebildeter Menschen. Eine Person mit einer engen Perspektive und ohne kritisches Denkvermögen lässt sich leichter von Pseudowissenschaften mitreißen. Leider sehe ich in Russland heute noch viele Anzeichen für schnelle Heilung mit der Hilfe von übernatürlichen Kräften oder Werbung für fragwürdige Zauberpillen. Das wird sich vielleicht auch nie ändern.

Olga mit Schultüte in Deutschland

Hier bin ich in Dresden, an meinem ersten Tag an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (2008). Nach deutscher Tradition hat mir mein Mann eine Zuckertüte zur „Einschulung“ geschenkt.

Positive Veränderungen seit meiner Diagnose

Dennoch sehe ich auch positive Veränderungen. Es freut mich zu sehen, dass Menschen in Russland offener geworden sind, merken, wo ihre Hilfe gebraucht wird und aktiv staatliche und private soziale Initiativen unterstützen. Es gibt mittlerweile mehr Information über MS in verschiedensten Medien. Es gibt auch viele russische Blogger, die die Informationslücken mit Berichten ihrer persönlichen Erfahrungen füllen. Es gibt überhaupt mehr Austausch. Es freut mich auch sehr, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung die Notwendigkeit der Impfung gegen COVID-19 versteht. Am 6. März 2021 fand dazu auch ein Webinar für Menschen mit MS statt, in dem die wichtigsten Ergebnisse des Expertenrates zur COVID-19-Impfung mit MS hervorgehoben wurden. Ich fand es großartig, dass man die seltene Möglichkeit hatte, Informationen aus erster Hand zu bekommen.

Leider gibt es in Russland, neben der Verbesserung der Behandlungen von MS-Betroffenen, noch systembedingte Probleme, zum Beispiel bei der Versorgung mit Medikamenten. Solche Versorgungsschwierigkeiten habe ich in Deutschland, wo ich jetzt lebe, nie erlebt. Was ich auch gemerkt habe, sind kulturelle Unterschiede. Ich meine damit den Umgang und die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Meinen russischen Ärzten fehlte damals die Empathie. Ich fühlte mich wie ein Kind, das nicht alles wissen soll. In Deutschland habe ich das anders erlebt. Der Patient ist hier kein Objekt der Behandlung, sondern sein aktiver Teilnehmer. Er soll aktiv mitmachen und dafür braucht er möglichst ausführliche Informationen.

Anderseits bekommt man in Russland ein breiteres Rehabilitationsangebot. Gesellig wird es in der „Moskauer Gesellschaft für Multiple Sklerose“. Dort trifft man sich gern auf eine Tasse Tee oder eine Runde Yoga. Oder man musiziert zusammen, malt, geht ins Theater, geht reiten und anderes. Alle Programme sind für die Menschen kostenfrei, man muss nur mitmachen wollen.

Die Experten dieser Gesellschaft und der MS-Zentren sind im ständigen Austausch mit ausländischen Kollegen und lernen voneinander. Eigentlich gehören Ärzte der ganzen Welt für mich zu einer besonderen Spezies Menschen. Sie sind in vielen Fällen meist eher politisch neutral und teilen gern ihr Wissen. Ich finde es gut, dass sich die Welt weiterdreht, die internationalen Beziehungen in der Medizin sich stärken, enger werden, und wir werden stauen, welche Möglichkeiten unsere Kinder in zehn Jahren haben. Bis dahin hoffe ich auf eine stabile Remission bei mir und wünsche euch dasselbe.

Ganz liebe Grüße aus Dresden

Olga

MAT-DE-2301291-1.0-05/2023