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Papas Humor ist schwärzer als der morgendliche Kaffee

Ob ich eine normale Kindheit hatte? Ich denke schon. Aber was ist eigentlich normal? Gefehlt hat es mir jedenfalls an nichts. In den Ferien sind meine Eltern und ich, wie wahrscheinlich viele andere Familien auch, mit dem Auto in den Urlaub gefahren. Es gab Spieleabende, Ausflüge zu den Großeltern am Wochenende, meine Eltern halfen mir bei den Hausaufgaben und jeden Sonntagabend gab es ein Familienessen zur besten Tatort-Sendezeit. Und auch sonst war irgendwie alles ziemlich normal. Schön eben. Dabei gibt es vielleicht doch etwas, das meine Familie von anderen unterscheidet. Mein Vater hat Multiple Sklerose.

Wann meine Eltern mir davon erzählten und ob ich damals verstand, was die Krankheit bedeutet, das weiß ich nicht mehr. Dazu muss man sagen, dass es meinem Vater verhältnismäßig gut geht – zumindest in Anbetracht anderer Krankheitsverläufe und des Zeitraums, über den er die Krankheit bereits hat. Ansehen tut man ihm seine MS jedenfalls nicht.

Als Kind habe ich meinen Vater nicht als „krank“ wahrgenommen. Zwar konnten wir nicht gemeinsam einen Marathon laufen oder den Mount Everest besteigen, aber das stand eh nie auf meiner Prioritätenliste. Stattdessen fuhren wir Fahrrad, spielten Federball oder gingen gemeinsam auf Konzerte. Und dass mein Vater irgendwann im Kampfsport (!) Schach nicht mehr gegen mich gewinnen konnte, lag wohl nicht an seiner MS. Ein Grund, warum ich die Krankheit meines Vaters als Kind nicht als solche wahrgenommen habe, ist neben dem glücklicherweise „guten“ Krankheitsverlauf wohl sein Umgang mit der Erkrankung.

Als ich 1990 geboren wurde, lebte mein Vater bereits zwei Jahre mit der Diagnose MS. Damals hatte er zum Glück nicht auf seinen Arzt gehört und seinen Berufswunsch aufgrund der erhaltenen Diagnose aufgegeben. Stattdessen hielt er an seinem Traum des Zeichnens fest. Und das – da bin ich mir ziemlich sicher – war (metaphorisch gesprochen) die beste Therapie. Mein Vater nutzte Stift und Papier, um sich mit seiner, aber auch mit anderen Krankheiten und Behinderungen auf humorvolle Art auseinanderzusetzen. Mein Vater zeichnete Behinderten-Cartoons. Und er tut das bis heute.

Sein Humor ist schwärzer als der morgendliche Kaffee

„Darf über Behinderten-Cartoons gelacht werden?“, fragen sich jetzt bestimmt viele. Ich finde: JA! Sicherlich hat jeder Mensch für sich einen anderen Umgang, mit schlimmen Diagnosen oder herausfordernden Lebensabschnitten zurechtzukommen. Für meinen Vater war und ist es bis heute die Zeichnerei. Sein Humor, könnte man sagen, ist mittlerweile schwärzer als der morgendliche Kaffee (und den kann man bei ihm wirklich nur mit viel Milch trinken!).

Natürlich entwickelte sich sein Humor mit der Zeit. So zeichnet er heute Cartoons, die er vor zwanzig Jahren so noch nicht gezeichnet hätte. Anteil an dieser Entwicklung hatten höchstwahrscheinlich auch die Arbeiten des US-amerikanischen Cartoonisten John Callahan. Dieser war nicht nur der erste Zeichner, der sich in seinen Cartoons mit Behinderungen auseinandersetzte. Zudem war er bekannt für seinen schwarzen Humor. Seine Zeichnungen waren so etwas wie ein Anstoß für meinen Vater, seine eigene Erkrankung in Cartoons zu verarbeiten.

Neben dem überwiegend sehr positiven Feedback zu den Behinderten- Cartoons meines Vaters gibt es auch Kritik. Doch es sind, das zeigen die Erfahrungen, meistens Nicht-Betroffene, die voller Entsetzen den mahnenden Zeigefinger heben. Demgegenüber lachen Betroffene so gut wie immer herzlichst über die Zeichnungen meines Vaters oder beanstanden, dass ihre Erkrankung oder Behinderung zeichnerisch noch nicht verarbeitet wurde.

Ich bin damit groß geworden, dass es okay und oft auch hilfreich ist, einem schwierigen Thema mit Humor zu begegnen. Dabei heißt Lachen nicht, dass über andere gelacht wird. Stattdessen wird durch den Humor ein Weg aufgezeigt, sich schwierigen Themen zu nähern. Eben mit Witz und Übertreibung.

„Verloren ist, wer den Humor verlor“

Ich bewundere die Arbeit meines Vaters und seinen Umgang mit der MS. Immer wenn ich ihn zu Veranstaltungen oder Ausstellungseröffnungen begleiten darf, wird mir bewusst, dass seine Arbeit für viele Menschen eine Inspiration ist. Auch wenn er selbst das Wort „Botschafter“ nie hören will, so hilft er betroffenen Menschen durch seine Zeichnungen doch. Er setzt sich für einen offeneren Umgang mit tabuisierten und schwierigen Themen ein und setzt den Stift genau dort an, wo es (im wahrsten Sinne des Wortes) wehtut.

Er zeigt Barrieren auf, die das Leben von Menschen mit Behinderungen im Alltag erschweren. Insofern bringen seine Cartoons nicht nur zum Lachen, sondern machen zum Beispiel auch deutlich, wo Inklusion in unserer Gesellschaft noch nicht funktioniert. Damit begegnet er schwierigen Themen mit einem Augenzwinkern. Und hinter jedem Lachen verbirgt sich ein wichtiger Kern. Denn auch wenn mein Vater seine MS heute in Cartoons mit Witz skizziert, so bleibt sie dennoch eine unheilbare Krankheit. Sein Leben wäre ohne diese Diagnose anders verlaufen, keine Frage. Doch da wir nicht in der Lage sind, das Schicksal zu ändern, müssen wir Wege finden, diesem erfolgreich zu begegnen.

Und was eignet sich dafür besser als Humor? Denn um mit einem Zitat des Journalisten Otto Julius Bierbaum zu enden: „Verloren ist, wer den Humor verlor“. Ich glaube, nicht allen Menschen müssen die Zeichnungen oder Witze meines Vaters gefallen. Jedoch dürfen diese anderen das Lachen nicht verbieten. Denn um das Floskel-Schwein noch einmal ordentlich zu füttern: Lachen ist und bleibt eben die beste Medizin.

MAT-DE-2204243-1.0-10/2022