Klettern mit MS

Wer sich an die Wand traut, gehört an die Wand

4 Min. Lesezeit

Frau an einer Kletterwand

Klettern ist längst nicht mehr nur eine Trendsportart, sondern hat sich zu einer beliebten Freizeitaktivität entwickelt, die Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und körperlicher Verfassungen begeistert. Doch was, wenn man mit einer Beeinträchtigung wie Multipler Sklerose konfrontiert wird? Kann man trotz dieser Erkrankung weiterhin die senkrechten Wände erklimmen und sich den Herausforderungen des Kletterns stellen? Die Antwort lautet: Ja! Ob mit oder ohne körperliche Einschränkung: Klettern kann als Therapie oder einfach als Sportart mit viel Spaß auch für Menschen mit MS fungieren.

Für Sanna und Claudia stand Klettern eigentlich nicht ganz oben auf der Liste der Sportarten, in denen sie sich ausprobieren wollten. Beide haben jedoch auf unterschiedliche Weise erfahren, dass man auch mit Multipler Sklerose „Wände hochgehen“ kann und für beide hat sich damit eine wundervolle Möglichkeit eröffnet, aktiv zu bleiben.

Claudia hat erst relativ spät mit Ende 40 ihre MS-Diagnose erhalten. Das Klettern hat die heute 56-Jährige in der Reha bei der Therapie an einer mobilen Kletterwand kennengelernt. „Die kann man sich vorstellen wie ein Laufband, nur hochkant, mit Tritten und Griffen“, erzählt Claudia.

Sie ist vorher noch nie geklettert, merkte aber schnell, dass ihr das Training nicht nur gut tut, sondern auch richtig viel Spaß macht. In der Reha hatte ihr damals schon jemand von den GäMSen erzählt. „Die GäMSen“ ist eine Klettergruppe für Menschen mit Handicap in Wuppertal, in der sie seitdem aktiv ist. Auch Sanna ist Mitglied bei den GäMSen.

Anders als Claudia lebt sie schon ihr ganzes Erwachsenenleben mit MS. Die Diagnose erhielt sie mit 21 Jahren. Nach rund 31 Jahren mit der Erkrankung ist sie mittlerweile von zahlreichen Einschränkungen betroffen und oft auf die Hilfe eines Rollstuhls angewiesen. Trotzdem ist sie sportlich sehr aktiv, um mit der MS fit zu bleiben.

Neben Tischtennis im Rolli ist sie so auch zum Klettern gekommen. Ein anderer Rollstuhlfahrer hatte sie auf die Idee gebracht. Hätte ein*e Fußgänger*in ihr das Thema „Klettern mit Handicap“ vorgeschlagen, wäre sie wahrscheinlich skeptischer gewesen. Ich an der Kletterwand? Unmöglich! So wurde sie neugierig. Sie begann zunächst in einer Klettergruppe der DMSG und lernte später die GäMSen kennen.

"An der Kletterwand kann man seine Grenzen ausloten und auch verschieben – egal, wie fit man ist."

Sanna merkt durch das Klettern eine deutliche Verbesserung ihrer Kondition. Sie hat dadurch auch ihren Körper besser kennengelernt und gelernt, ihm trotz Handicap wieder mehr zuzutrauen. Claudia kann die positiven Effekte des Kletterns bestätigen: „Ich schlafe danach besser, ich laufe danach besser, ich habe weniger Schmerzen“, und auch einen positiven Effekt auf ihre Rumpfmuskulatur konnte sie beobachten. Die Erfahrungen der beiden spiegeln sich auch in Studien zu den positiven Effekten des Kletterns wider. Selbst eine Reduktion der Fatigue konnte hier durch regelmäßiges Training festgestellt werden.1

Klettern hält fit

Klettern ist ein Ganzkörpertraining, das schnell Erfolge zeigen kann. Gerade unter Physiotherapeut*innen gilt es als besonders geeignet, um Kraft, Koordination, Ausdauer und Gleichgewicht zu verbessern.2

Als Training für Menschen mit MS kommen vor allem zwei Klettervarianten infrage:2

  • Beim Sportklettern wird die Person an der Wand über ein Seil von einem Kletterpartner oder einer Kletterpartnerin gesichert.
  • Beim therapeutischen Klettern werden einzelne Bewegungssequenzen wiederholt, wie Griffe oder Schritte, um spezielle Funktionen zu stärken. Dabei werden die Übenden von Therapeut*innen unterstützt.


Klettern trainiert die Motorik und aktiviert auch weniger genutzte Fähigkeiten und Bewegungsmuster. Allerdings muss man wie bei jeder Sportart dran bleiben, um langfristig davon zu profitieren.2

Klettern gibt Selbstvertrauen

Klettern ist nicht nur gut für den Körper. Es kann auch das Selbstbewusstsein stärken. Eine steile Wand zu erklimmen ist für viele ein persönlicher Erfolg – der kann motivieren, auch andere Herausforderungen im Alltag anzugehen. Beim Klettern kann man im wörtlichen Sinne ganz neue Wege ausprobieren und muss individuelle Lösungswege finden. Das hält den Kopf flexibel – ein Effekt, der im Leben mit Multipler Sklerose sehr hilfreich sein kann.

„Im Alltag fokussiert man sich viel auf Probleme und darauf, was nicht geht. Das funktioniert aber beim Klettern nicht. Da ist es völlig egal, was am Boden ist. Beim Klettern fokussiere ich mich auf die Wand und es zählt, was ich mir in diesem Moment zutraue. Ich habe beim Klettern wieder gelernt, meinem Körper zu vertrauen und mich von ihm überraschen zu lassen“, erzählt Sanna. Von ihr stammt auch die Titelaussage dieses Artikels. Mit ihrem Mut und ihrer Energie beweist sie, Klettern zu können ist keine Frage der körperlichen Grundverfassung.

Klettern ist ein Teamsport

Beim Klettern kommt noch eine soziale Komponente hinzu, denn man klettert nie alleine. Wer von einem Kletterpartner oder einer Kletterpartnerin mit einem Seil gesichert wird, lernt, sich auf andere zu verlassen. Es gibt auch sogenannte Beikletterer, die Menschen mit Einschränkungen in der Wand unterstützen, indem sie zum Beispiel Füße setzen oder die Person in der Wand stabilisieren. Im Austausch als Team kann man sich gegenseitig beistehen und einen neuen Umgang mit körperlichen Einschränkungen finden.

Bei den GäMSen werden deshalb auch gerade Partner*innen ermuntert, am Klettern teilzunehmen. Die Klettergruppe wird außerdem von vielen Helfer*innen unterstützt. „Die Fitteren klettern meist feste Routen, die man an der Farbe der Griffe und Tritte erkennt. Die gibt es in verschiedenen Schwierigkeitsgraden. Die anderen klettern bunt, wie wir das nennen. Aber egal, wer was macht, Spaß und Teamgeist stehen immer im Vordergrund“, sagt Claudia.

In der Regel trainieren so an den Wochenenden 20 bis 30 Menschen mit und ohne Handicap miteinander und auch Kletterausflüge und -reisen in der Natur werden regelmäßig organisiert. Vielen Dank an Claudia und Sanna von den GäMSen für das spannende Interview.

Quellen:

1 Neurologie & Rehabilitation. Wirkung von Therapeutischem Klettern bei Personen mit Multipler Sklerose – Hinweise oder Nachweise? www.hippocampus.de/media/316/cms_522718d16e19b.pdf, letzter Zugriff: 27.05.2024.
2 DMSG. Grundsätzliches. www.dmsg.de/multiple-sklerose/ms-und-sport/ klettern, letzter Zugriff: 27.05.2024.

MAT-DE-2402338-1.0-06/2024