Rituale können Balsam für die Seele sein

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Rituale können Balsam für die Seele sein

Ob Taufe, Hochzeit oder Geburtstagsfeier, Ostereiermalen, Fasten im Ramadan, Puja, Eid al-Fitr oder Bar Mizwa: Rituale finden sich in vielen Religionen, Gesellschaften und Kulturen und sie begleiten uns von der Wiege bis zur Bahre. Manche Menschen denken bei Festlichkeiten jedoch nicht mehr an Besinnlichkeit und Gemeinschaft, sondern an Einkaufsstress und Familienquerelen. Feierliche Rituale empfinden sie als lästige Pflicht. Dabei können uns Rituale im Alltag helfen.

Rituale – das klingt irgendwie bedeutungsschwanger. Du denkst jetzt vielleicht an gespenstische Zeremonien mit maskierten Menschen, an brennende Fackeln und Mondschein. Sicher gibt es auch Rituale bei Mondschein, und Feuer spielt auch manchmal eine Rolle – man denke nur an das Osterfeuer –, viele Rituale begegnen uns jedoch in unserem Alltag. Zum Beispiel beim Sport: Der gemeinsame Schlachtruf der Mannschaft vor einem Fußballspiel ist ein Ritual. Auch das Singen der Fans im Chor zum Anfeuern der Mannschaft kann ein Ritual sein. Einige Menschen finden sich jeden Sonntag vormittags in der Kirche zusammen, andere um 20:15 Uhr zum traditionellen Tatort-Schauen.

Das romantische Dinner zum Jahrestag kann rituelle Züge haben oder das gemeinsam gesprochene „Mahlzeit!“ am Mittagstisch. Fast jede Kultur kennt Begrüßungsrituale, die in einigen Fällen zu komplizierten Handchoreografien wurden. Schultüte und Doktorhut sind rituelle Gegenstände, die uns in unserer Ausbildung begegnen können. Es gibt viele Rituale, die wir nicht immer als solche wahrnehmen. Was macht also ein Ritual aus?

Routine oder Ritual

Laut Wikipedia ist ein Ritual „eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt“. Beim gewohnheitsmäßigen Zähneputzen am Morgen wandern die Gedanken schon mal zum bevorstehenden Tag und das Putzen der Zähne passiert eher beiläufig. Damit ist diese wiederkehrende, immer gleiche Handlung eher eine Routine und kein Ritual.

In jedem Ritual steckt etwas Besonderes, oft Emotionales oder Feierliches

Zum Ritual können alltägliche Handlungen werden, wenn Du ihnen eine besondere Bedeutung gibst und sie ganz bewusst und strukturiert ausführst. Die wichtigste Regel bei Ritualen: Du musst etwas tun, was nur dem Ritual dient. Außerdem müssen die Handlungen etwas symbolisieren.

Wie Rituale uns helfen können

1. Rituale können Ängste mindern1

Forscher um die Psychologin Alison Wood Brooks von der Harvard University in Cambridge haben gezeigt, dass rituelle Handlungen Aufregung und Ängste mindern können. dafür ließen sie Probanden jeweils vor einer Gesangsprüfung oder einem Mathematiktest folgendes Ritual durchführen: Zeichne auf ein Papier, wie Du Dich gerade fühlst, streue danach Salz auf das Papier. Zähle dann laut bis fünf, falte das Papier zusammen und wirf es in den Müll!

Das Ergebnis war erstaunlich: Teilnehmer, die dieses scheinbar sinnlose Ritual absolviert hatten, schnitten bei Gesangsprüfung und Mathematiktest tatsächlich besser ab als Teilnehmer, die kein Ritual vollführten. Diese banale rituelle Handlung führte zu weniger Angst und einem ruhigeren Herzschlag. Das galt selbst für Probanden, die nicht so recht an die Wirkung des Rituals glaubten. Es half jedoch nur, wenn das Ritual auch als solches benannt und es als Symbol zur Beseitigung der eigenen Ängste wahrgenommen wurde. Wahllose Aktionen zur Ablenkung waren wirkungslos.

2. Rituale können der Seele bei Verlust oder Trauer helfen2

Der Mensch mag keine Veränderungen und traurige schon gar nicht. Sie führen ihm oft die eigene Machtlosigkeit vor Augen. Die bewussten Handlungen bei Ritualen können uns ein Gefühl von Kontrolle zurückgeben. Wahrscheinlich liegt darin der Grund, dass Rituale schmerzhafte Veränderungen erträglicher machen können.

Zu diesem Ergebnis gelangten die Forscher Michael Norton und Francesca Gino. In einem Experiment teilten sie 247 Personen in zwei Gruppen. Alle Teilnehmer schrieben etwa zehn Minuten lang über einen wichtigen Verlust. Eine Gruppe sollte dabei vom Tod eines geliebten Menschen berichten, die andere vom Ende einer Liebesbeziehung. In beiden Gruppen sollten einige Teilnehmer auch Rituale schildern, die sie nach dem Verlust vollzogen hatten – egal ob sie bestimmte Orte mieden, Bilder weggeworfen oder bedeutsame Kleidungsstücke nicht mehr angezogen hatten.

Im Anschluss fragten die Forscher alle Probanden, wie sie sich nun fühlten. Sie sollten zum Beispiel angeben, ob sie angesichts der Erinnerung eine Art Kontrollverlust und Hilflosigkeit spürten oder wie stark sie noch trauerten. Das Ergebnis war überraschend: Probanden, die sich zuvor an ein bestimmtes Ritual erinnert hatten, ging es besser. Sie empfanden nicht nur weniger Machtlosigkeit, sondern auch weniger Trauer. Nach Norton und Gino sind Rituale nach traurigen Erlebnissen eine Art seelische Medizin.

3. Rituale können Freude und Genuss steigern3

Rituale können nicht nur Trauer lindern, sie können auch Gefühle wie Freude und Genuss verstärken. Das zeigten Experimente der US-Psychologin Kathleen Vohs von der Carlson School of Management. Sie reichte Hunderten von Probanden in vier Experimenten verschiedene Nahrungsmittel. Mal durften sie Schokolade naschen, mal Limonade schlürfen, mal Möhren mümmeln.

Ein Teil der Probanden sollte vor dem Verzehr ein kleines Ritual vollziehen. Die Schokogruppe zum Beispiel sollte den Riegel samt Verpackung zuerst teilen, dann die eine Hälfte auspacken und essen und erst danach die zweite Hälfte. Diese einfache Prozedur zeigte Wirkung. Die „rituellen Nascher“ ließen sich mehr Zeit mit der Schokolade und genossen sie umso mehr, sie fanden sie leckerer und hätten sogar mehr dafür bezahlt als die Probanden, die die Schokolade einfach so aßen. Vohs geht davon aus, dass selbst kleine Rituale Erlebnisse intensiver erscheinen lassen und so zu mehr Genuss führen können.

Falls Du Dich jetzt fragst, wie Du von diesen Erkenntnissen profitieren kannst – wir haben einige Tipps zusammengestellt:

  •  Nutze bestehende Rituale
    Ob es nun das Öffnen des Adventskalenders ist oder das gemeinsame Fastenbrechen, es gibt viele Rituale rund um Feste und Feiertage. Statt diese gestresst „abzuarbeiten“, könntest Du einen Moment innehalten, ihnen eine ganz persönliche Bedeutung geben und sie dann bewusst ausführen. Viele Bräuche oder Feste sind sogar direkt mit Feiertagen verbunden. Diese freien Tage kannst Du nutzen, um etwas, dass Dir wichtig ist, mehr Aufmerksamkeit zu geben.

  • Schaffe Dir eigene Rituale
    Generell kann jeder eigene Rituale erfinden, wenn man von der positiven Wirkung profitieren möchte. Die bestehenden Rituale sind ja auch nicht vom Himmel gefallen. Hast Du zum Beispiel Angst vor den Kontrolluntersuchungen beim Arzt? Dann erschaffe Dir ein kleines Ritual, das Du vorher abhalten kannst. Das kann Dir Kraft geben und Ängste mildern. War Deine Arbeitswoche extrem stressig? Dann kannst Du ein besonderes Ritual am Freitag ausführen, mit dem Du diese abschließt und ein entspanntes Wochenende einläutest. Damit kannst Du einen klaren Übergang von der Arbeit zur Freizeit markieren.

  •  Nutze die Gemeinschaft
    Das gemeinsame Erleben von Ritualen kann das Wir-Gefühl stärken. So kann das gemeinsame Mittagessen zu einem Ritual werden, wenn es dabei nicht nur um Nahrungsaufnahme geht, sondern auch darum, das Zusammensein zu feiern. Auch Paare können von gemeinsamen Ritualen profitieren. Und vor allem Kindern geben gemeinsame Rituale oft Halt und Sicherheit.

 

Es gibt viele Hilfsmittel, mit denen Du Deinen Alltag bewusst gestalten kannst – Rituale sind eines davon, denn ...

... wenn Du Dir etwas bewusst machst, macht es etwas mit Dir!

Aber Achtung: In Ritualen liegen auch Gefahren. Zum Beispiel wenn sie zu Abgrenzung und Intoleranz führen oder leere Rituale verantwortungsvolles Handeln vorspielen, ohne dass dieses wirklich vorliegt. Man sollte darauf achten, dass Rituale nicht zum Zwang werden und das Leben einschränken. Führe nur Rituale aus, die Dir guttun. Empfindest Du sie als unangenehme Pflicht, können Rituale Dein Leben einschränken und das Gefühl von Kontrollverlust sogar verstärken.

Quellen:
1. Brooks AW et al. Don’t stop believing: Rituals improve performance by decreasing anxiety. Organizational Behavior and Human Decision Processes. 2016; 137: 71–85.
2. Norton MI, Gino F. Rituals alleviate grieving for loved ones, lovers, and lotteries. J Exp Psychol Gen. 2014; 143(1): 266–272.
3. Vohs KD et al. Rituals Enhance Consumption. Psychological Science. 2013; 24(9): 1714–1721.

MAT-DE-2004464 v1.0 (10/2020)