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MS-Outing – mein offener Umgang mit der Multiplen Sklerose

Patrick mit seiner Tochter und seiner Frau vor dem Eingang eines alten Hauses

Ich bin Elena, bin 29 Jahre alt und lebe in meiner Heimatstadt Hamburg. Mich begeistert alles rund um Kultur und Bildung, weshalb ich in einer Stiftung arbeite, die sich genau für diese Themen einsetzt. Seit sechs Jahren lebe ich jetzt mit der Diagnose MS und im Alltag komme ich normalerweise gut klar. Natürlich überkommt es mich manchmal und ich werde plötzlich traurig und wütend, aber dennoch konnte ich die Krankheit für mich persönlich akzeptieren und schnell selbstwirksam damit umgehen. Doch der Anfang war nicht leicht.

Wie alles begann
Während meines Studiums in Hildesheim, im Winter 2016, wachte ich auf und starrte auf meine linke Hand: Sie fühlte sich taub und kribbelig an und zunächst habe ich mir dabei nichts gedacht. Vielleicht hatte ich mich nachts aus Versehen komisch draufgelegt oder einen Nerv geklemmt.

Am nächsten Tag fühlte sich auch die rechte Hand seltsam an, einige Tage später die Beine, bis ich nur noch mit Mühe gehen konnte. Natürlich habe ich die Symptome sofort gegoogelt, was wirklich selten eine gute Idee ist. An diesem Tag schrieb ich in mein Tagebuch: „Am Ende habe ich noch MS.“

Ich schleppte mich zum Hausarzt und wurde direkt zur Neurologin geschickt. Sie schaute mich nach der Untersuchung ernst an: „Sie gehen jetzt nach Hause, packen ihre Sachen und fahren nach Hamburg. Im Krankenhaus melden Sie sich in der Notaufnahme.“ Das zog ich dann alleine durch, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Ich wollte niemanden überfordern. Einer Freundin hätte ich das in dem Moment nicht geraten, aber mit mir selbst war ich damals sehr ungnädig und hart.

Im Zug nach Hamburg stand ich die ganze Fahrt über, fragte nicht nach Hilfe, machte das Thema zunächst mit mir selbst aus und redete mir gut zu. Im Krankenhaus wurde ich untersucht, empfing endlich Besuch und blieb insgesamt eine Woche – das war mein erster Schub.


Outing oder Nicht-Outing?
Mit dem zweiten diagnostizierten Schub kam die gesicherte Diagnose „Multiple Sklerose“. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich bereits einige Monate mit der Krankheit beschäftigt und den Gedanken akzeptiert, dass die MS Teil meines Lebens werden könnte.

Nach diversen YouTube-Videos und Google-Suchen wusste ich, was bei dieser Autoimmunkrankheit ungefähr im Körper passiert, und vor allem, dass jeder MS-Verlauf unterschiedlich ist, viele Betroffene lange gut damit leben und auch nicht alle z. B. eine Gehhilfe oder einen Rollstuhl brauchen. Und natürlich: Die Krankheit ist chronisch und das heißt, dass ich quasi ewig Zeit habe, um absolute Expertin meiner eigenen MS zu werden.

Man ist aber natürlich nicht allein im Leben und es stellen sich viele Fragen: Wem sage ich es? Wie sage ich es? Und wann?

Die Entscheidung zum Outing oder Nicht-Outing liegt nur bei dir allein. Der Umgang mit deiner Krankheit darf zu dir und deiner Persönlichkeit passen. Für mich war klar, wie mein persönlicher Weg aussehen würde: Ich sage es allen, und zwar mit Klarheit, aber auch mit Sensibilität.


Hauptsache, die Kinder sind gesund
Gesundheit ist das Wichtigste. Das würden die meisten unterschreiben, erst recht für die eigenen Kinder. Ich stand also vor der Aufgabe, meinen Eltern zu sagen, dass sie von nun an ein krankes Kind haben. Man kann es nicht beschönigen: Es ist furchtbar und schwer zu greifen.

Da ich selbst die Krankheit und ein Leben mit der Krankheit akzeptiert hatte, nahm ich mir vor, meine Eltern vorsichtig an das Thema heranzuführen. Etwa so: „Mama, Papa, ihr wisst ja, dass ich vor einem halben Jahr mit Taubheitsgefühlen und einer Entzündung im Kopf im Krankenhaus war und dass mir Kortison da total geholfen hat. Jetzt hatte ich meine zweite Untersuchung und es ist eine weitere Entzündung dazugekommen. Damit hat sich der Verdacht bestätigt: Ich habe Multiple Sklerose und werde mit dieser Krankheit leben. Aber es wird viel geforscht und die Medikamente werden immer besser – macht euch keine Sorgen.“

Natürlich waren meine Eltern trotzdem erst mal besorgt, aber das ist ja auch nachvollziehbar.

Insgesamt war der Moment okay, meine Eltern sehr ruhig und offen. Es hat hier geholfen, dass ich selbst schon einige Informationen gesammelt hatte, indem ich mir viele Betroffenenberichte angesehen hatte, und so viele Fragen schon beantworten konnte.


Die Kontrolle behalten
Schritt zwei: Wie sage ich es meiner Schwester? Das war leider sehr schwer und mir tut der Gedanke daran immer noch weh.

Meine kleine Schwester, für die ich eben immer die große Schwester war, machte gerade ein Auslandsjahr und war weit weg vom Geschehen. Als ich ihr per Skype von der Diagnose erzählte, konnten wir uns nicht umarmen und gleichzeitig war es für sie unmöglich, das Thema und das Ausmaß meiner Worte richtig zu begreifen: Plötzlich war ich krank, plötzlich war ich nicht mehr die große Schwester, die alles unter Kontrolle hatte.

Elena neben ihrer kleinen Schwester sitzend.

Mittlerweile ist das zum Glück ganz anders, dafür hat die Zeit ganz automatisch gesorgt, aber in jenem Moment war es echt schwer, mit ihr über Distanz darüber zu reden.

Der Rest meiner Familie ist relativ groß und lebt überall auf der Welt. Um alle auf den gleichen Stand zu bringen, habe ich eine E-Mail formuliert, die ehrlich und informativ war und dabei recht wenig emotional.

Die E-Mail war für mich der unkomplizierteste Weg, über das Thema zu sprechen, und gleichzeitig ein wichtiges Bedürfnis, um alle selbst über meine neue Situation zu informieren. Heute hätte ich das vielleicht über Zoom gemacht.

Das geschriebene Wort hat aber auch Vorteile: Mit sehr viel Bedacht können Formulierungen und Informationen gewählt werden und so habe ich selbst genau bestimmen können, in welcher Form ich über meine MS kommunizieren und die Erkrankung offenlegen möchte.


Erzähle ich es bei der Arbeit? Ja, ja und ja!
Das war für mich von Anfang an sowas von klar.

Ich möchte, dass es bei der Arbeit alle wissen. Es soll kein Geheimnis sein. Ich möchte nicht, dass Leute anfangen zu flüstern, wenn es um schwere Krankheiten geht. Das ist das Leben, es ist ein großer Teil von mir und von vielen anderen auch.

Natürlich wünsche ich mir, dass ich bei der Arbeit nicht mit Samthandschuhen angefasst und immer ernst genommen werde. Wenn es aber dazu kommt, dass ich ausfalle oder Unterstützung brauche, ist klar, warum, und dann haben auch alle Verständnis. An einem Ort, an dem einem nicht mit Verständnis, Offenheit und Interesse begegnet wird, möchte ich auch gar nicht arbeiten.


Einfach raus damit
Ich erzähle schnell von meiner MS-Diagnose – auch auf die Gefahr hin, dass ich jemanden damit überrumple. Vielleicht ändert sich das für mich noch mal, sobald man mir die Krankheit ansieht, aber jetzt gerade bin ich sehr offen damit.

Und bislang hat es fast nur spannende Gespräche ermöglicht. Ab und zu kommt natürlich schon ein blöder Kommentar wie: „Ja, die Schwester der Freundin meines Cousins hat das auch und ihr haben Atemübungen total geholfen“, aber meistens ist es ein inspirierender Impuls. Ich erlebe es oft als einen berührenden Moment, in dem die andere Person mir vertraut und sich ein ehrliches, tiefes Gespräch ergibt.


Austausch ist das Wichtigste
Für mich ist jedes Gespräch mit anderen Erkrankten eine Bereicherung und ein Geschenk – und es sind einfach so viele, allein in Deutschland. Ich habe immer alles mitgenommen: Treffen bei einer Selbsthilfegruppe bis hin zum Segeltörn mit einer Gruppe MS-Betroffener. Und natürlich die „Öffentlichkeit“ auf Instagram. Auf meinem normalen, privaten Instagram-Account habe ich mich mit einem Post verabschiedet hin zu „another.girl.with.ms“.

Und dort geht es quasi nur um die Krankheit und den Austausch, und ich finde es empowernd, dass es diese Community gibt. Ob man offen mit der eigenen MS umgeht, ist super individuell. Es muss zu einem selbst passen, es muss zum Umfeld passen und es muss zur Situation passen.

Für mich persönlich hat es allerdings auch etwas Kämpferisches: Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der wir über chronische und unsichtbare Krankheiten, aber auch über erkrankte junge Menschen sprechen. Damit nehmen wir Raum ein und bewältigen das Thema und den schweren Weg gemeinsam und nicht allein.

Elena lachend draußen in einem Café.

MAT-DE-2203611-1.0-08/2022