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TABU – streng vertraulich!

Pool vor Hotelanlage

Wenn man bei der Multiplen Sklerose über Tabus nachdenkt, kommt man als erstes zu den Tabus, die auch in der Gesellschaft eher als Tabu angesehen werden. In der Gesellschaft spricht man beispielsweise nur hinter verschlossenen Türen über Sexualität. Als ich gefragt wurde, ob ich einen Artikel über Tabuisierung bei MS schreiben möchte, wurde mir auch direkt angeboten, dass ich das anonym schreiben könnte und es muss auch nicht unbedingt ein Text über Sexualität sein.

Ich muss gestehen, wenn ich über Tabuisierung bei MS nachdenke, komme ich nicht direkt zur Sexualität. Ich vergleiche das gerne mit der Bedürfnispyramide nach Maslow. Ich bin examinierte Krankenschwester und mir wurde die Bedürfnispyramide nach Maslow so erklärt: Wenn ich gesund bin, sind mir materialistische Dinge sehr wichtig und ich beneide diejenigen, die sich Dinge leisten können, die ich mir im Leben wahrscheinlich nie leisten werden kann. Bin ich aber in irgendetwas eingeschränkt, sind mir diese Dinge total egal. Da liegt mein Hauptaugenmerk auf den Aktivitäten des täglichen Lebens. Über die man sich erst Gedanken macht, wenn etwas nicht so funktioniert, wie normal üblich.

Aber jetzt zu den Tabus…

Als ich 1999 die Diagnose MS erhalten habe, habe ich direkt an die MS-Patienten gedacht, die ich noch aus der Ausbildung kannte. Am Anfang meiner Ausbildung habe ich auf einer neurologischen Station gearbeitet. 1996 gab es noch nicht so viele medikamentöse Alternativen für MS, eigentlich nur Kortison. So sahen die MS-Patienten, die in der Uniklinik lagen dann auch aus. Morgens gequält von Spastiken, war es den meisten nicht möglich irgendwelche Aktivitäten des täglichen Lebens durchzuführen. Sie wurden gewaschen und gekämmt und dann in einen Rollstuhl geliftet. Das aber auch nur, wenn die Beugespastik der Hüftmuskulatur es zuließ. Dieses Horrorszenario hatte ich vor Augen, als ich die Diagnose bekam und wurde dann schnell beruhigt, da es im Jahr 1999 schon hoffnungsvolle Ergebnisse aus der Arzneimittelforschung gab.

Was ich an der Tatsache im Rollstuhl zu sitzen noch viel schlimmer finde ist, dass man von Außenstehenden immer direkt behandelt wird, als wäre man nicht nur körperlich beeinträchtigt. (Aber das nur am Rande).

Am Anfang der Erkrankung war also das größte Tabu der Rollstuhl. Ich glaube, das ist bei vielen Patienten so. Das Wort Rollstuhl in den Mund zu nehmen, wenn man selbst noch joggen geht, ist ein großes Tabu. Über die anderen Konsequenzen der Krankheit macht man sich aber zu dem Zeitpunkt noch keine Gedanken.

zwei Taucher unter Wasser

Im Urlaub beim Tauchen

Als ich meinen Mann 2006 kennenlernte, erzählte ich ihm von meiner Erkrankung. Ich hatte die Krankheit zwar schon seit fast sieben Jahren, aber ich hatte eigentlich noch keinerlei Einschränkungen. Ich konnte noch Handball spielen und war ansonsten auch noch sehr aktiv. Damals habe ich ihm gesagt, dass ich alles dafür tun werde, dass ich mal nicht im Rollstuhl sitzen werde. Jetzt, zehn Jahre später, sitze ich noch immer nicht im Rollstuhl, aber ich bin sehr gangunsicher. Diese Behinderung wird in jede Planung mit eingezogen. Darüber wird auch gesprochen, aber jetzt gibt es andere Tabus, über die ich, wir, uns vorher keine Gedanken gemacht haben.

Ich gehe zum Beispiel ungern irgendwo hin, wo ich nicht weiß, wo die nächste Toilette ist. Die Sätze “Können wir jetzt mal eine Toilette suchen, ich halte schon seit einer Stunde ein” gibt es nicht mehr. Dieses Tabu ist gerade bei mir und in der Gesellschaft riesig. Da freut man sich an der Kasse der Drogerie, dass nicht riesig “Blasenschwäche” auf der Verpackung von Vorlagen steht. Man trifft sich ja auch nicht mit Freunden und spricht darüber, wann das letzte Tröpfchen in die Hose gegangen ist. Ganz geschweige davon, dass man  Probleme mit seinem Darm hätte. Was ich aber total interessant finde, ist die Tatsache, dass ich, seitdem ich am liebsten mit einer mobilen Toilette das Haus verlasse, immer mehr Gleichgesinnte finde (und das nicht nur unter MS-Erkrankten). Ich glaube, das ist dasselbe, wie wenn man schwanger ist und überall Schwangere sieht, oder dass man überall sein Auto sieht, wenn man gerade ein neues hat. Aber selbst die Fernsehwerbung macht Werbung für Inkontinenzprodukte und es gibt nicht nur die eine Marke und nur in der Apotheke (wo man dann mit zehn in einer Schlange steht und nach Erwachsenenwindelhöschen fragt.) Fast genauso wie die Kondomwerbung Ende der 80er: “Rita…. Wat kosten die Kondome?”. Damals war das das größte Tabu der Gesellschaft und man hat bei der Werbung kichernd vorm Fernseher gesessen… So verändern sich nicht nur die persönlichen Tabus.

Jetzt komme ich noch mal zu meinem Tabu der Inkontinenz. Ich bin nämlich auch der Meinung, dass der Grund, ein bestimmtes Thema zum Tabu zu machen, für jeden individuell verschieden ist.

Ich war gerade im Urlaub in einem tollen Hotel, maßgeschneidert für neurologisch Erkrankte. Dort ging es mir fast noch am besten (von den Erkrankten, nicht von den Begleitern). Nachdem man an der Rezeption sehr freundlich empfangen wurde, bekam man direkt einen Zettel in die Hand gedrückt, dass man sich bei vorhandener Harn- oder Darminkontinenz im benachbarten Sanitätsshop eine Gummihose kaufen soll. Denn wenn man den Pool verunreinigt, müsste man die Reinigungskosten (bis zu 1.500€) selbst begleichen. Dafür musste ich sogar eine Lesebestätigung unterschreiben. Dann wurde mir noch mitgeteilt, dass es kein Problem sei, auch eine extra Unterlage fürs Bett zu bestellen. Auch auf dem Hotelzimmer lagen dazu noch Informationen. >Autsch< Ich bin ja noch gar nicht inkontinent, aber so wurde mir noch mal sehr nah vor Augen gehalten, dass aus einer sensiblen Blase auch leicht eine inkontinente werden kann.

Dieses Thema ist für mich nicht allein ein Tabu. Ich habe einfach Angst davor. Mir ist es ziemlich egal, wenn Fremde denken, ich sei betrunken, da ich beim Gehen schwanke. Aber einzunässen und dann zu stinken oder noch schlimmer einzukoten, würde meiner Lebensqualität doch sehr schaden.

Ich bin tatsächlich der Meinung, dass sich die Themen, die selten oder gar nicht öffentlich angesprochen werden, mit der Zeit und der wandelnden Gesellschaft ändern.

GZDE.MS.19.03.0182