
Im Urlaub beim Tauchen
Als ich meinen Mann 2006 kennenlernte, erzählte ich ihm von meiner Erkrankung. Ich hatte die Krankheit zwar schon seit fast sieben Jahren, aber ich hatte eigentlich noch keinerlei Einschränkungen. Ich konnte noch Handball spielen und war ansonsten auch noch sehr aktiv. Damals habe ich ihm gesagt, dass ich alles dafür tun werde, dass ich mal nicht im Rollstuhl sitzen werde. Jetzt, zehn Jahre später, sitze ich noch immer nicht im Rollstuhl, aber ich bin sehr gangunsicher. Diese Behinderung wird in jede Planung mit eingezogen. Darüber wird auch gesprochen, aber jetzt gibt es andere Tabus, über die ich, wir, uns vorher keine Gedanken gemacht haben.
Ich gehe zum Beispiel ungern irgendwo hin, wo ich nicht weiß, wo die nächste Toilette ist. Die Sätze “Können wir jetzt mal eine Toilette suchen, ich halte schon seit einer Stunde ein” gibt es nicht mehr. Dieses Tabu ist gerade bei mir und in der Gesellschaft riesig. Da freut man sich an der Kasse der Drogerie, dass nicht riesig “Blasenschwäche” auf der Verpackung von Vorlagen steht. Man trifft sich ja auch nicht mit Freunden und spricht darüber, wann das letzte Tröpfchen in die Hose gegangen ist. Ganz geschweige davon, dass man Probleme mit seinem Darm hätte. Was ich aber total interessant finde, ist die Tatsache, dass ich, seitdem ich am liebsten mit einer mobilen Toilette das Haus verlasse, immer mehr Gleichgesinnte finde (und das nicht nur unter MS-Erkrankten). Ich glaube, das ist dasselbe, wie wenn man schwanger ist und überall Schwangere sieht, oder dass man überall sein Auto sieht, wenn man gerade ein neues hat. Aber selbst die Fernsehwerbung macht Werbung für Inkontinenzprodukte und es gibt nicht nur die eine Marke und nur in der Apotheke (wo man dann mit zehn in einer Schlange steht und nach Erwachsenenwindelhöschen fragt.) Fast genauso wie die Kondomwerbung Ende der 80er: “Rita…. Wat kosten die Kondome?”. Damals war das das größte Tabu der Gesellschaft und man hat bei der Werbung kichernd vorm Fernseher gesessen… So verändern sich nicht nur die persönlichen Tabus.
Jetzt komme ich noch mal zu meinem Tabu der Inkontinenz. Ich bin nämlich auch der Meinung, dass der Grund, ein bestimmtes Thema zum Tabu zu machen, für jeden individuell verschieden ist.
Ich war gerade im Urlaub in einem tollen Hotel, maßgeschneidert für neurologisch Erkrankte. Dort ging es mir fast noch am besten (von den Erkrankten, nicht von den Begleitern). Nachdem man an der Rezeption sehr freundlich empfangen wurde, bekam man direkt einen Zettel in die Hand gedrückt, dass man sich bei vorhandener Harn- oder Darminkontinenz im benachbarten Sanitätsshop eine Gummihose kaufen soll. Denn wenn man den Pool verunreinigt, müsste man die Reinigungskosten (bis zu 1.500€) selbst begleichen. Dafür musste ich sogar eine Lesebestätigung unterschreiben. Dann wurde mir noch mitgeteilt, dass es kein Problem sei, auch eine extra Unterlage fürs Bett zu bestellen. Auch auf dem Hotelzimmer lagen dazu noch Informationen. >Autsch< Ich bin ja noch gar nicht inkontinent, aber so wurde mir noch mal sehr nah vor Augen gehalten, dass aus einer sensiblen Blase auch leicht eine inkontinente werden kann.
Dieses Thema ist für mich nicht allein ein Tabu. Ich habe einfach Angst davor. Mir ist es ziemlich egal, wenn Fremde denken, ich sei betrunken, da ich beim Gehen schwanke. Aber einzunässen und dann zu stinken oder noch schlimmer einzukoten, würde meiner Lebensqualität doch sehr schaden.
Ich bin tatsächlich der Meinung, dass sich die Themen, die selten oder gar nicht öffentlich angesprochen werden, mit der Zeit und der wandelnden Gesellschaft ändern.