4 Min. Lesezeit

Geben und Nehmen

Multiple Sklerose – Krankheit mit 1000 Gesichtern

Ich lese und höre immer wieder, dass viele Menschen – mit MS und auch ohne MS – Probleme haben, Hilfe anzunehmen. Ich kann das überhaupt nicht nachvollziehen. Ich verstehe es wirklich nicht. Ich glaube, mein Gehirn funktioniert einfach anders.

In wenigen Sekunden zur Problemlösung

Eröffnet sich mir ein Problem/ein Hindernis/eine Hürde – wie man es auch immer nennen mag –, scannt mein Gehirn in wenigen Sekunden mögliche Optionen, Möglichkeiten und Ressourcen (mental, körperlich, materiell, finanziell, emotional, menschlich …), um zu einer Lösung zu gelangen. Das passiert meist so schnell, dass mir der Prozess gar nicht so bewusst ist und ich mich erst aktiv „dazuschalten“ muss, um mich für eine der Lösungen zu entscheiden. Manchmal erschrecke ich mich, wie schnell mein Gehirn arbeitet und wie wenig ich davon mitbekomme. Versteht mich aber nicht falsch – mein Gehirn ist nicht in allen Bereichen und immer so fix. Schon gar nicht, wenn die kognitiven Störungen gepaart mit Fatigue an mein Oberstübchen klopfen. Kennste? Kennste.

Menschliche Ressourcen?

„Menschliche Ressourcen“ klingt so abgedroschen, so nach Aus- und Benutzen. Viele Menschen möchten anderen nicht zur Last fallen. Ich halte diesen Gedanken für einen großen Fehler und unter anderem ein Absprechen der Fähigkeit zur Eigenverantwortung des anderen. Indem ich denke, dass ich meinem Gegenüber zur Last fallen würde, nehme ich automatisch an, dass dieser nicht dazu fähig ist, realistisch einzuschätzen, was für ihn tragbar ist und was nicht. Es nimmt von vornherein die Chance auf einen Austausch, einen Dialog und ein Miteinander. Es beinhaltet die Annahme, dass Menschen sich nicht um andere kümmern (wollen). Im Gegenzug aber macht es die meisten Menschen glücklich, wenn sie anderen helfen können – inklusive derer, die andere nicht um Hilfe bitten möchten. Irgendwie geht diese Rechnung für mich nicht ganz auf. Vielleicht wäre es hilfreich, daran zu denken, dass man dem Gegenüber ein gutes Gefühl schenkt, indem wir die Person um Hilfe fragen. Ich stimme zu, dass es darauf ankommt, welches Ausmaß die Hilfe beinhaltet, wie man fragt und wie oft gefragt wird, keine Frage. Aber ich finde auch, nur ein Geben und ein Nehmen hält alles in Balance.

MS und Hilfe

Beispiel: Tausche Naschkram gegen Krankenhaustasche

Im Sommer 2015 hatte ich einen Schub, der mit dem uns allzu bekannten Mittel ambulant behandelt wurde. Ende vom Lied war allerdings, dass ich spontan für eine Nacht im Krankenhaus aufgenommen werden musste. Ich lag heulend und zitternd im Krankenhausbett, kurz vor einem nervlichen Kollaps, aber auch froh, mich mal für eine Nacht nicht um mich selbst kümmern zu müssen. Halt – doch, da gab es noch einige Dinge zu organisieren: Zahnbürste, Zahnpasta, Schlafzeug und Kuscheltier transportierten sich nicht von selbst ins Krankenhaus und meine Familie wohnt 300 Kilometer von Berlin entfernt. Eine gute Freundin von mir hat allerdings einen Zweitschlüssel von meiner Wohnung, die nicht weit vom Krankenhaus entfernt liegt. Meine Freundin zu diesem Zeitpunkt allerdings schon, die gerade beim Baden an einem südlichen Berliner See war. Trotzdem hat sie sich auf den Weg gemacht, um erst in meine Wohnung zu fahren, meine Sachen zu packen und diese dann zu mir ins Krankenhaus zu bringen. Das ist einfach wahnsinnig lieb und definitiv nicht selbstverständlich. Deshalb habe ich mich in der Zwischenzeit in die Krankenhaus-Cafeteria geschleppt, um uns Naschkram zu besorgen. Einfach, um etwas zurückzugeben. Ich habe mich überhaupt nicht gescheut, meine Freundin anzurufen – es war einfach die logische Konsequenz aus meiner Situation und meinen Bedürfnissen.

Ich persönlich finde es ganz selbstverständlich, Hilfe anzubieten und auch um Hilfe zu bitten. Ich persönlich würde nie nach etwas fragen, was ich nicht selbst für die andere Person tun würde, und auch bei größeren Geldsummen sowie beruflich bin ich vorsichtig. Außerdem überlege ich meist im gleichen Atemzug, was ich für Ressourcen habe, die ich dem anderen Menschen anbieten könnte. Wie bereits gesagt, Geben und Nehmen. Im Fall meiner Freundin war dies etwas zu trinken sowie eine schokoladige Stärkung als Zeichen der Wertschätzung für das, was sie für mich getan hat. Ich glaube, ich habe auch für sie gekocht, als es mir besser ging. An dieser Stelle noch mal ein großes Dankeschön an dich, Lissi – lass es mich wissen, wenn ich dir helfen kann!

Du bist es wert

Scheue dich nicht, Menschen um Hilfe zu fragen. Es ist ganz natürlich und überhaupt kein Versagen, mal nicht weiter zu wissen und/oder an seine Grenzen zu stoßen. Würdest du deiner/m besten Freund/in abraten, sich Hilfe zu holen? Würdest du wollen, dass sie/er sich allein durch etwas durchquält? Ich glaube nicht. Du würdest ihr/ihm beistehen wollen, helfen wollen, gut zureden wollen. Wie wäre es, wenn du das auch mal bei dir selbst versuchst und deine ganz eigene beste Freundin oder dein ganz eigener bester Freund bist? Ich weiß, einfach ist es nicht, aber kleine Schritte führen auch zum Ziel. Vergiss nie – du bist wertvoll und wundervoll, einfach weil du DU bist! Ist das nicht ein schönes Gefühl? Tu dir selbst etwas Gutes – du hast es verdient! ?

GZDE.MS.19.06.0359