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„Dein Problem“

Multiple Sklerose – Krankheit mit 1000 Gesichtern

An dieser Stelle möchte ich zuerst einmal betonen, dass ich keine Ärztin bin, keine Krankenschwester, keine medizinische Ausbildung habe. Ich möchte auch keinesfalls sagen, dass meine Art, mit MS oder auch wie ich mit meinem Körper im Gesamten umgehe, der richtige Weg für alle Menschen ist. Wir alle sind so verschieden, ganz individuell. Nicht umsonst wird sie ja auch als die Krankheit der 1000 Gesichter bezeichnet. Was ich machen kann und möchte, ist, in diesen Tagebucheinträgen von meinen ganz persönlichen Gedanken, Erlebnissen und Erfahrungen mit Multipler Sklerose zu erzählen. Von meiner Reise mit meiner MS. Liest du mit?

Liebe MS,

wie du weißt, ist es mir normalerweise egal, was andere Menschen in Bezug auf dich sagen. Ich freue mich, wenn Menschen mir Gesundheit wünschen, wenn ich niese. Es zeigt mir, dass Menschen in gewisser Weise auf mich achten, höflich sind und mir Gesundheit wünschen, auch wenn es vielleicht manchmal auch einfach eine Floskel ist. Als ich gefragt wurde, ob ich denn überhaupt noch Fahrrad fahren kann, musste ich lachen. Ich habe dann einfach erklärt, dass „MS“ nicht für „Muskelschwund“ steht und ich persönlich Fahrrad fahren kann. Als mir einmal gesagt wurde, dass ich überhaupt nicht so aussehe, als ob ich krank wäre, habe ich erklärt, dass es viele unsichtbare Symptome gibt. Alles kein Problem für mich. Ich kenne mich auch nicht mit allen Krankheiten dieser Welt aus. Ich habe bestimmt auch schon einige Dinge gesagt, die für andere als unwissend und verletzend galten und werde zukünftig bestimmt noch weitere viele unwissende und verletzende Dinge sagen. Ich wünsche mir, dass die Menschen dann mit mir in einen Dialog treten und mir erklären, wieso es verletzend ist. Daher versuche ich dasselbe zu tun, was ich mir von anderen wünsche. So etwa nach dem Motto: „Wer von euch ohne Sünde ist, der solle den ersten Stein werfen.“ Allerdings befand ich mich innerhalb kurzer Zeit in zwei Situationen, in denen zwei verschiedene Menschen von zwei verschiedenen Kontinenten, zwei verschiedenen Geschlechtern und zwei verschiedenen Beziehungen zu mir dich als mein „Problem“ bezeichnet haben.

„Your problem“ und „Your issue“

Da hat sich etwas in mir gesträubt. Wir haben vor diesen Sätzen über dich gesprochen, MS. Multiple Sklerose. Multiple Sclerosis. Meine Krankheit. My disease. Ich habe dann beide Male sofort gesagt, dass du nicht mein Problem bist. Einmal davon kam zurück: „Doch, es ist dein Problem.“ Oha. Wie kommst du dazu, zu denken, dass du auch nur annähernd in der Position bist, meine Krankheit als mein Problem zu betiteln, nachdem ich es weder selbst so genannt habe und dir explizit gesagt habe, dass es kein Problem ist plus Erklärung und Aufzählung vieler der guten Dinge, die mir die MS gebracht hat? Ich muss zugeben, ich war echt angepisst.

Mir fällt gerade auf, dass ich mich mit meinen folgenden Worten gar nicht mehr nur an dich richten möchte, liebe MS. Ich hoffe, das ist okay für dich – der nächste Eintrag gilt wieder ganz dir, versprochen! :)

Warum Sprache so wichtig ist

Es gibt viele Menschen, denen das ganze Gendern auf die Nerven geht. Kann ich ein bisschen verstehen. Immer politisch korrekt zu sprechen ist manchmal einfach anstrengend und kompliziert und überhaupt unbequem. Dabei kommt es vielleicht auch auf die jeweilige Situation, Person und Beziehung an. Wenn ich mit jemandem im Gespräch bin und diese Person das Wort „behindert“ als Schimpfwort benutzt, dann weise ich denjenigen/diejenige darauf hin, dass es nicht in Ordnung ist, dieses Wort als solches zu benutzen. Ich habe das als Teenager auch benutzt, dann irgendwann gemerkt, dass es kein Schimpfwort sein sollte (genauso wenig wie „schwul“) und mache seitdem darauf aufmerksam. Nicht böse, hoffentlich nicht allzu belehrend, aber aufklärend und einfach von meiner Position aus. Gleichzeitig gibt es aber auch einige Menschen mit Behinderung, die damit kein Problem haben. Verwirrend, nicht wahr? Nicht nur einmal war ich Teil einer Diskussion darüber, wie kompliziert, verwirrend und teils unnötig inkludierende Begriffe sind.

Leben mit Multipler Sklerose

Wirklich? Sind sie das? Ist es nicht einfach wunderschön, wenn wir endlich alle Menschen inkludieren können? Wollen wir nicht alle unseren Platz haben? Gesehen werden? Anerkannt werden? Wertgeschätzt werden? Ich finde es vor allem wichtig, darauf zu achten, welche Begriffe von den jeweiligen Personen gewählt werden.

Ich bezeichne meine MS als Krankheit und als MS – nenne du sie nicht mein Problem, sondern benutze meine Wortwahl! Eine Transfrau sagt dir, sie möchte als „sie“ angesprochen werden – mache das! Ein homosexueller Mann bittet dich, nicht mehr das Wort „Schwuchtel“ als Schimpfwort zu benutzen – respektiere es! Wenigstens im Gespräch mit ihm.

Sehen und gesehen werden

Es geht nicht darum, Menschen etwas zu verbieten oder sie zu verbiegen. Es geht darum, respektvoll miteinander umzugehen. Zu sehen. Gesehen zu werden. Miteinander zu sein anstatt weit entfernt oder sogar gegeneinander. Wir alle möchten gesehen werden. Wertgeschätzt werden. Mit Respekt behandelt werden. Wir können andere Menschen nicht dazu zwingen, das zu tun. Wir können aber an uns selbst arbeiten und andere so behandeln, wie wir behandelt werden wollen. Das versuche ich. Machst du mit?

Wir, zusammen. Miteinander. Jetzt.

Danke!

MAT-DE-2006714 -2.0-07/2023