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Voll im Leben – schaffe ich die Selbstheilung mit MS?

Janine im Rolli am Meer mit ihrem Hund

Der Beginn einer Reise, die ich schon ein Jahrzehnt zuvor geplant hatte. In meinem Kopf war alles, was man dafür brauchte – nur meine Seele war noch nicht bereit ...

Ich stehe am Strand mit Blick auf den Horizont. Hier, in Wismar, wo ich seit drei Jahren zu Hause bin. Ich bin jetzt glücklich, habe vier wundervolle Tiere, einen Partner und um mich herum pure Natur. Das, was ich mir schon immer vorgestellt habe. Ich denke über die letzten Jahre nach. Was war passiert? Wie ist es dazu gekommen? Wahnsinn! So viel ist passiert und so viel hat sich verändert.

Zukunftsängste, Einsamkeit und Verzweiflung

Der Wendepunkt

Vor viereinhalb Jahren lebte ich noch in einem Hamburger Pflegeheim, da ich mich nicht mehr allein um mich kümmern konnte. August 2017 war der Wendepunkt für mich, denn so, wie es war, konnte es nicht mehr weitergehen. Ich musste etwas ändern ... nur wie? Was? Und schaffe ich das überhaupt allein? Ich fing an, viel zu lesen. Am liebsten hatte ich Sachbücher & Autobiografien von anderen Menschen mit Multipler Sklerose. Menschen, die ihren Weg und irgendwann schließlich zu sich selbst gefunden hatten.

Es hörte sich so schön für mich an, dass ich das auch wollte. Mein Lieblingsbuch „Dem Leben wiedergegeben“, ein Buch zur Selbsttherapie von Sonja Wierk und Barbara Zaruba, habe ich nicht mehr aus der Hand gelegt. Es geht um eine Frau mit Multipler Sklerose, die aufgrund der Krankheit ans Bett gefesselt war. Sie veränderte entscheidende Dinge in ihrem Leben und kämpfte sich aus dem Bett heraus. Zehn Jahre lang lag dieses Buch in meiner privaten Bibliothek. Gewusst habe ich es also schon lange.

Erste Schritte und neue Routinen

Ich begann zu überlegen, wo ich als Erstes beginnen müsste. Vielleicht Ernährung, vielleicht Sport? Vielleicht etwas ganz anderes? Es entwickelte sich schnell zu einem Wirrwarr aus vielen Dingen, die ich verändern wollte. Ich kam so zu der Erkenntnis, dass eine Struktur erstmal gut wäre.

Da es mir viele Jahre schon körperlich nicht gut ging, fehlte es mir sehr lange überhaupt an Struktur. Ich guckte lange fern, schlief sehr lange und war dennoch nicht ausgeruht genug, um den Tag gut zu überstehen. Und so begann ich als Erstes, mir einen Wecker zu stellen. Ich zwang mich dazu, abends den Fernseher zu einer bestimmten, nicht allzu späten Zeit auszuschalten, um noch zu lesen, bis ich einschlafen konnte. Ich hatte ja jetzt wundervolle Bücher, denen ich mich widmen konnte, und ich nahm tatsächlich einiges von dem, was ich las, mit in den Schlaf.

Ich gewöhnte mich nach einiger Zeit daran und es fing an, mir Spaß zu machen. Denn ich merkte auch, wie mein Körper mit weniger Symptomen reagierte. Sogar Verbesserungen konnte ich wahrnehmen und auch mein Selbstwertgefühl stieg, weil ich vieles schaffte.

Da ich mich vom Pflegedienst des Heims abgemeldet hatte und sowieso kein Mitglied der Institution mehr war, sondern nur noch dort wohnte, musste vieles selbstständig funktionieren. Ich entwickelte immer mehr Freude daran, sogar einen kleinen Fitnessplan umzusetzen. Jeden Tag stellte ich mich ins Badezimmer und machte Übungen an den Haltegriffen (diese Haltegriffe für körperbehinderte Menschen). Der Mut in mir wurde auch immer größer, denn ich spürte, dass diese Therapie für mich funktionierte.

Neuer Mut und mehr Selbstwertgefühl

Mein Selbstwertgefühl war nun mittlerweile gestiegen, aber irgendwas stimmte immer noch nicht. Ich fühlte mich nicht schön. Dabei hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, dass Selbstliebe und Selbstwertschätzung großartig sind und man auch nur so glücklich werden kann.

Ein Buch über Achtsamkeit und Selbstliebe war also nun mein neues Thema, womit ich mich nur zu gerne beschäftigte. Nach einiger Zeit begannen sich auch meine Gedanken gegenüber der Welt zu ändern. War ich davor oft in einem negativen Gedankenkarussell gefangen, das mich blockierte, wurde mir jetzt vieles klarer, ich hatte weniger Fragen, konnte mir vieles erklären und ich spürte damit eine immer größere Leichtigkeit.

Eine Leichtigkeit, auch auf Menschen zuzugehen. Ich entwickelte sogar die Stärke, mich von Menschen zu verabschieden, die mir nicht guttaten. Das war einige Male hart und auch schmerzhaft, aber am Ende konnte ich sehen, dass es für mich gut war.

Sonnige Momente und neue Kontakte

Ein halbes Jahr war nun vergangen und ich spürte mittlerweile morgens beim Aufstehen eine Freude auf den Tag. Sonne und gute Laune machten sich breit, während ich auf meiner Terrasse den ersten Kaffee genoss, nachdem ich nun auch schon ein halbes Jahr lang selbstständig aus dem Bett aufstehen konnte.

April 2018. Es lief gut. Es lief so gut für mich, dass ich sogar jemanden kennenlernte. Drei Monate kannten wir uns zu dem Zeitpunkt und waren gerade auf dem Weg nach Köln, um ein kleines Hündchen abzuholen. Meine kleine Nima.

Ab diesem Zeitpunkt hatte ich alle Hände voll zu tun, denn ein Welpe macht viel Arbeit. Aber diese Arbeit hat mir so einen Spaß gemacht, weil ich alles geschafft habe. Jeden Morgen um 7 Uhr klingelte der Wecker und ich war jeden Tag gegen 9:30 Uhr im Park. Ich lernte neue Menschen kennen. Menschen, mit denen ich das Interesse Hund teilte. Wir trafen uns zu Spaziergängen und Spielrunden. Diese Kontakte gaben mir auch Selbstvertrauen.

Eines Tages, während ich auf dem Weg zum Supermarkt war, begegnete ich einer jungen Frau, ebenfalls mit Hündchen. Wir kamen kurz ins Gespräch und verabschiedeten uns auch wieder. Ich habe noch lange an diese Frau gedacht, weil ich sie in diesem Moment mochte, und ich hoffte, wir würden uns wieder treffen. Wenn es so sein soll, dann wird es auch so geschehen, dachte ich mir und es geschah tatsächlich eines Tages. Unsere Hunde sind altersmäßig gar nicht so weit auseinander und so verabredeten wir uns immer öfter. Wir wurden Freundinnen.

Janine sitzt im Rolli und spielt im Park Ball mit ihren Hunden

MS-Community auf Instagram: Nicht mehr allein

An einem anderen Tag, es war ein wunderschöner warmer Frühlingstag, fragte sie mich, ob ich Instagram kennen würde. Ich kannte es, hatte sogar schon einen Account, aber auf diesem noch nichts veröffentlicht.

Ich auf Instagram? Die, die gar nicht so schön ist, nicht fotogen genug, um überhaupt eine Reichweite zu erlangen? Obwohl ich mich schon ein wenig hübscher, innen wie außen, fühlte, war das für mich noch zu viel. Doch meine Freundin ermutigte mich.

Ich machte also ein erstes Foto. Ganz cool, ganz locker machte ich ein Selfie mit ausgestreckter Zunge. Hashtags hatte ich auch hinzugefügt und so dauerte es nicht lange, bis ich plötzlich Follower hatte. Ich folgte zurück, denn es waren Menschen mit meiner chronischen Erkrankung. Ich hatte noch nie großartigen Kontakt zu anderen MS-Erkrankten, außer in Rehakliniken.

Es fing an, mir richtig Spaß zu machen, und es entwickelte sich eine richtige Community auf Instagram, nach der ich regelrecht süchtig wurde. Ich wurde auch süchtig nach dem Gefühl, welches ich damit verband: Ich war nicht mehr allein!

Natürlich spricht man nicht immer mit jedem einzelnen, aber das muss man auch gar nicht. Es reicht auch aus zu wissen, dass da jemand ist, wenn man es möchte. Es reichte manchmal auch aus, nur die Beiträge der anderen zu lesen. Zu sehen, dass auch andere so fühlen. Ich bemerkte auch immer mehr, wie das ankam, was ich da machte.

Mut machen mit Höhen und Tiefen

Ich teilte von nun an meine Erfolge, die ich mit dem Training erzielte, auf Instagram ... oder auch mal Dinge, die nicht so gut liefen. Nicht nur ich hatte Mut aus den Geschichten der anderen gewonnen, sondern auch ich wurde plötzlich zu einem Mutmacher für andere.

Vor dreieinhalb Jahren fühlte ich mich auch stark genug, aus dem Heim und nach Wismar zu meinem Freund zu ziehen. Am Anfang war es nicht ganz leicht. Meine Wohnung musste rollstuhlgerecht umgebaut werden und so zog ich auf eine Baustelle. Dass da auch mal Streit und Stress aufkommen kann bei so viel Druck, ist auch ganz normal. Und es ließ mich zwischendurch zweifeln. Mein Körper zeigte mir, dass dieser Stress zu viel war. Mein linker Arm machte schlapp und ich selbst auch. Mit meinem bisher gewonnenen Wissen über meine Erkrankung bin ich jedoch auch dieses Thema erneut angegangen.

Bestimmte Arm- und Handübungen gehörten wieder zu meinem Alltag. Dieses Mal war ich jedoch nicht ganz alleine damit, denn ich fand hier in Wismar ein Sportzentrum. Es ist fast wie ein normales Fitnessstudio, nur dass die Mitarbeiter dort Physiotherapeuten sind und auch viel mit Schlaganfallpatienten zusammenarbeiten. Es gefiel mir so gut, dass ich bis heute zweimal wöchentlich dorthin fahre. Einige der Übungen habe ich auch zu Hause durchgeführt, so dass mein Arm nach anderthalb Jahren zu 75 % wiederhergestellt ist.

Meine Reise der Selbstheilung

Ich bin die letzten Jahre so überwältigt worden, dass ich schon manchmal dachte, irgendwann müsste ich jetzt aufwachen. Es fühlt sich an wie ein wunderschöner Traum. Nicht nur der Support der MS-Community ist überwältigend.

Ich durfte für MS-Begleiter schon mal etwas schreiben und was sich daraufhin entwickelte – das hätte ich niemals für möglich gehalten. Nach meinem ersten Blogartikel „Wie ich die Angst vor meiner MS überwunden habe“ meldete sich eine Journalistin bei mir. Sie arbeitet für das GEO-Magazin und wollte gerne etwas mit mir machen.

Und das sollte es nicht gewesen sein. Drei verschiedene andere Magazine, ein großer bekannter Fernsehsender ... so viel Aufmerksamkeit hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben. Ich bin auch Markenbotschafterin für die Firma meines Rollstuhls geworden und darf ganz kreativ und selbstbestimmt Content damit machen.

Aber was mich am meisten stolz macht, ist, dass andere Erkrankte mir vertrauen. Und dass wir uns alle gegenseitig Halt und Mut geben.

Ich bin dankbar für die Erfahrungen, die ich machen darf. Ich freue mich auf die Zukunft und bin gespannt, was mir noch so alles in meinem Leben begegnen wird.

Und falls Ihr mich auf meiner Reise ein Stückchen begleiten möchtet, findet Ihr mich auf Instagram @journeyofsilenthealingms

Eure Nine

Janine auf einer Pierbrücke im Rolli mit Hund auf dem Schoß

MAT-DE-2202027-1.0-05/2022