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Dumm gelaufen – eine Schutzbehauptung

Regen und Laub

Wenn Du so eine Diagnose bekommst wie MS, läuft neben den Läsionen noch einiges mehr im Kopf ab … in dem noch funktionierenden Teil: Horrorszenarien und Ängste, die neben allen Maßnahmen, das Positive zu sehen, regelmäßig ihren Raum fordern.

Vor Kurzem besuchte ich eine Freundin, die ich sehr lange nicht gesehen hatte. Wir sprachen über alles Mögliche und irgendwann kam unweigerlich das Thema MS auf den Tisch. „Warum kriegt man das?“, fragte sie. „Keine Ahnung“, sagte ich, „man kann wohl einfach sagen: ziemlich dumm gelaufen.“ Das klingt so, als würde es mir gar nichts ausmachen, jetzt für immer eine fiese chronische Erkrankung mit absolut unklarem Ausgang zu haben.

Wenn ich so spreche, ist das auch durchaus so gewollt. Dann habe ich keine Lust, tiefer in das Thema einzusteigen, möchte lieber den Moment genießen und über „normale“ Sachen reden. Aber manchmal, da lasse ich es zu: dass ich traurig, wütend und enttäuscht vom Leben bin, dass ich mich ungerecht behandelt fühle, dass ich es nicht richtig finde, dass ausgerechnet ich auch noch so eine Krankheit kriegen muss. Besser: Alles Negative bahnt sich seinen Weg.

Die Gedanken sind frei? Mitnichten!

Dass ich das Gefühl haben muss, in meiner Lebensplanung eingeschränkt zu sein, dass sogar mein Vorstellungsvermögen eingeschränkt ist, wird dann offenbar. „Die Gedanken sind frei?“ – von wegen! Wenn ich ein altes Ehepaar sehe, er am Rollator, sie unterstützt ihn, beginne ich gerührt zu denken: „Ja, wenn wir dann einmal so alt sind …“
 

Nein! So läuft’s nicht!

Wenn wir so alt sind, werde ich Hilfe benötigen und das nicht erst mit Ü70. Dann muss mein Mann meinen Rollstuhl schieben oder mir beim Einsteigen in den Bus helfen. Dann habe ich nämlich diesen gelben Button mit den drei schwarzen Punkten an meiner Jacke, weil ich fast nichts mehr sehen kann. So wird das bei uns. Oder ich traue mich gar nicht mehr raus, weil ich eine Windel tragen muss – für alle Belange. Alternativ oder zusätzlich könnte ich auch komplett verdummt sein und bräuchte ständige Betreuung. Und das alles, wenn ich Glück habe, erst mit Ende fünfzig. Aber selbstredend kann es auch nächste Woche der Fall sein – wer weiß das schon? Denn MS heißt ja: „Alles ist möglich!“

Ja, mein von Läsionen durchlöchertes Hirn ist zu so einigen, äußerst kreativen Schandtaten bereit und arbeitet daran erstaunlich schnell: Innerhalb von Sekunden kann es mindestens zehn derlei Horrorszenarien kreieren, open end. Es ist alles möglich, hereinspaziert!

Aber dir geht’s doch gut!?

Wer auch immer mir als Nächstes diese Halbfrage stellen möchte, hat mit dem kleinen Einblick in meine persönliche Sklero-Horrorshow vielleicht eine Ahnung davon bekommen, dass es mir eigentlich ganz oft eher so gar nicht gut geht. Klar, ich kann (meistens) gut laufen, wirke möglicherweise noch eloquent, betreibe eine laufende Selbstständigkeit und habe zwei bemerkenswerte Kinder.
 

Sieht toll aus, oder? Tja, Blenden ist alles!

Wenn ich mal Tage habe, an denen es mit dem Laufen oder Stehen nicht so klappt, werde ich nicht ernst genommen. Denn „eigentlich“ ist das doch kein Problem! Die Treppe läufst du doch sonst auch ständig ganz normal hoch und runter! Ja, stimmt. Aber heute geht es nicht! Denn heute ist so ein Tag, an dem ich merke: Ich bin halt nicht mehr gesund und werde es auch nicht mehr sein. An einem solchen Tag könnte ich während der Fahrradfahrt (ja, kann ich noch!) auf der Stelle einschlafen, von einer Sekunde auf die andere, ich würde das Rad auf den Fußweg legen und mich daneben und nicht mehr aufstehen, wenn ich diesem Gefühl nachgäbe.

Oder ich hätte jederzeit einen kleinen Klapphocker unterm Arm, weil ich vielleicht von jetzt auf gleich nicht mehr stehen kann. Oder es gefühlt nicht mehr kann – total egaOder wenn ich wage zu sagen, dass das mit dem Arbeiten und Denken und Tippen heute eher nicht möglich ist, dass ich mich eigentlich arbeitsunfähig fühle und Angst habe, dass das jetzt so bleibt – in Worten: die Existenzangst mich packt und das nicht unberechtigt, habe ich das Gefühl, das nicht zu dürfen. Denn, wir wissen ja: Es geht doch sonst auch immer! Aah! Ich möchte schreien! Aber das ist an diesen Tagen dann auch zu viel.

Du darfst mit mir trauern

Mittlerweile kann und will ich es nicht mehr hinnehmen, wenn Leute, die wissen, was ich mit mir rumschleppe, mich nicht ernst nehmen. Ich jammere und klage so gut wie nie, weil ich zum einen weiß, wie gut es mir im Vergleich zu einigen Leidensgenossen mit der MS geht. Aber manchmal, an diesen MS-Reminder-Tagen, will ich Verständnis. Ich will Fürsorge und Unterstützung. Denn noch kann ich sagen: Es ist doch morgen schon wieder vorbei, morgen ist wieder alles normal. Doch heute, jetzt, brauche ich die Möglichkeit zum Anlehnen, zum Abgeben.

Noch ist es möglich zu denken: Es hört wieder auf. Das geht wieder weg, es wird wieder unsichtbar.

Aber obwohl jetzt noch sehr vieles gut ist, wünsche ich mir Unterstützung bei meiner tief empfundenen Trauer um meine ungewisse Zukunft. Wie geht es mir morgen? Wie in zwei Monaten, wie mit vierzig? Wie lange kann ich arbeiten? Können meine Söhne mich zum Tanzen auffordern, wenn sie heiraten? Werde ich mich um meine Enkel kümmern können – kann ich sie überhaupt noch sehen oder werde ich blind sein? Werde ich …?

„Früher“ empfand ich die Ungewissheit der Zukunft als Abenteuer, als Herausforderung – im positiven Sinne. Heute hängt dieses „Was ist wann noch möglich?“ wie ein Damoklesschwert über mir. Denn auch wenn ich kämpfe, wenn ich so unglaublich bewusst im Jetzt lebe – oder zu leben scheine –, schwelt diese Unsicherheit in mir. Und dann trage ich Schwarz.

GZDE.MS.18.09.0681