MS bei Kindern und Jugendlichen
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Es begann im Urlaub. Marie wollte mit einer Freundin zum Strand und ging ein paar Stufen hinunter. Plötzlich sind ihr die Beine einfach weggeknickt. Auch in den nächsten Tagen ließen sie ihre Glieder immer wieder im Stich. Wieder zu Hause angekommen, erfuhren Marie und ihre Familie nach einer Reihe von Untersuchungen, dass sie MS hat. Sie war damals 15 Jahre alt.
Die Multiple Sklerose tritt normalerweise zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf. Bei rund fünf Prozent der Betroffenen zeigen sich erste Krankheitszeichen jedoch schon früher. Bei Kindern sind Mädchen und Jungen etwa gleich häufig betroffen. Mit der Pubertät ändert sich das und es erkranken mehr Mädchen als Jungen.1
Für Menschen jeden Alters ist die Diagnose MS ein Schock. Sie Kindern und Jugendlichen mitzuteilen ist eine besondere Herausforderung. Bei Kindern müssen Ärzte die Eltern einbeziehen, die oft selbst verängstigt sind. Jugendliche wollen die Fakten meist selbst kennen und verstehen.
Insgesamt betrachtet ist die MS im Kindes- und Jugendalter eher selten: Weltweit sind rund 2,8 Millionen Menschen von Multipler Sklerose betroffen, davon rund 30.000 unter 18 Jahren.2 Man schätzt, dass in Deutschland jedes Jahr zwischen 150 und 200 Kinder und Jugendliche neu an MS erkranken. „Sie haben in aller Regel andere Fragen als Erwachsene und andere Herausforderungen bei der Krankheitsbewältigung“, berichtet Dr. Michael Meusers, Facharzt für Kinder- und Jugendlichen-Psychiatrie aus Paderborn. Die Symptome der MS können sich auf viele Aspekte des Lebens eines jungen Menschen auswirken – von der körperlichen Gesundheit über die soziale Entwicklung bis hin zum Selbstwertgefühl.3
Entzündungsprozesse im Gehirn und im Rückenmark
Ursache der MS sind Entzündungsprozesse im Gehirn und im Rückenmark. Warum diese auftreten, ist trotz großer Forschungsanstrengungen noch weitgehend unklar. Allerdings weiß man inzwischen eine ganze Menge über die Krankheit. Man kann sie zwar nicht heilen, aber mit Medikamenten gut behandeln.4 Die betroffenen Kinder und Jugendlichen werden mit der MS und ihrer Behandlung laut Dr. Meusers umso besser zurechtkommen, je besser sie die Krankheit verstehen: „Im Idealfall werden sie selbst zum Experten ihrer Erkrankung.“
Die Entzündungen im Gehirn und Rückenmark spürt man nicht direkt. Durch sie kann jedoch die Reizweiterleitung gestört sein und es entstehen Krankheitssymptome. Die sind oft ein erster Hinweis auf die Erkrankung und der Grund für den Arztbesuch. Vor allem bei jungen Menschen können sich die beschädigten Markscheiden, die die Nervenzellen umhüllen, auch rasch wieder erholen.4
„Die Symptome klingen oft in wenigen Tagen durch die Behandlung wieder ab und die Kinder und Jugendlichen können ihr normales Leben in der Regel weitgehend unbeeinträchtigt fortführen“, erklärt Dr. Meusers. „Sie können in symptomfreien Zeiten der MS problemlos am Schulsport teilnehmen und sportlich aktiv sein. Sie dürfen Partys feiern, an der Klassenfahrt teilnehmen und das Leben genießen. Dabei brauchen sie nicht zu fürchten, dass dies dem Krankheitsverlauf schadet“, führt der Neuropädiater aus. „Die Kinder sollten jedoch die Telefonnummer einer Kontaktperson dabeihaben, an die sie sich wenden können, wenn sie das Gefühl haben, dass sich ein akuter Krankheitsschub entwickelt.“
„Wichtig ist, dass die verordneten Medikamente zuverlässig eingenommen werden“, sagt Dr. Meusers. Bei der Behandlung der MS hat es in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gegeben und diese Entwicklung wird sich voraussichtlich auch in Zukunft weiter fortsetzen.
Häufigere Schübe – raschere Rückbildung
Die Multiple Sklerose verläuft bei Kindern und Jugendlichen meist etwas anders als bei Erwachsenen. Zum Beispiel kommt es häufiger zu einem akuten Krankheitsschub. Der zeigt sich oftmals mit mehreren Symptomen gleichzeitig. Er bildet sich aber meist auch rascher und vollständiger wieder zurück als bei Erwachsenen.5
Die Schübe beginnen im Jugendalter oft mit Sehstörungen wie etwa verschwommenem Sehen oder Doppelbildern aufgrund einer Entzündung des Sehnervs. Nicht selten kommt es gleichzeitig zu sensiblen Ausfällen mit Kribbeln und/oder Taubheitsgefühlen bis hin zu Lähmungen in einer Körperregion. Beginnt die Erkrankung bereits im Kindesalter, stehen oft motorische Störungen sowie Gleichgewichtsstörungen im Vordergrund. Außerdem können Kopfschmerzen und Schwindel auftreten, eine Konzentrationsschwäche und eine ungewohnte Müdigkeit.4
"Dank vieler Fortschritte kann die MS heutzutage auch mit Tabletten statt Injektionen behandelt werden"
Behandlung auch in Zeiten ohne Krankheitszeichen
Zwischen den Krankheitsschüben sind die Betroffenen oft beschwerdefrei. Allerdings kann es im Laufe der Erkrankung dazu kommen, dass sich akute Schübe nicht mehr vollständig zurückbilden und so nach und nach Behinderungen auftreten. Um dem entgegenzuwirken, wird die MS üblicherweise nicht nur im akuten Schub behandelt, sondern auch in den Phasen ohne Krankheitszeichen.
Ziel einer solchen Therapie ist es, die Schubrate und die Schubschwere zu verringern sowie mögliche bleibende Behinderungen hinauszuzögern oder zu verhindern.5 Damit das gelingt, sollte die Behandlung schon frühzeitig begonnen und auch nach Abklingen eines akuten Schubs konsequent fortgeführt werden. Verordnete Medikamente sollten keinesfalls eigenmächtig abgesetzt werden. Im Gespräch mit dem Arzt können Therapiepläne oft angepasst werden, sodass sie besser in den Alltag der betroffenen Kinder und Jugendlichen passen.
Den Alltag gut bewältigen
Mit der Therapie gelingt es im Allgemeinen, die akuten Krankheitssymptome rasch zu lindern und dem Auftreten neuer Schübe vorzubeugen. So können die betroffenen Kinder und Jugendlichen trotz der MS weitgehend unbeeinträchtigt leben. Das ist sehr wichtig, da die Krankheitsschübe ansonsten vermehrte Fehlzeiten in der Schule oder im Beruf zur Folge haben können. Auch starke Müdigkeit und Konzentrationsstörungen könnten sonst zu Problemen bei der Ausbildung und am Arbeitsplatz führen.
Bei Kindern und Jugendlichen mit MS ist auch die Berufswahl ein Thema. „Zurückhaltung ist lediglich geboten bei Berufen mit hohen Anforderungen an die Motorik, wie zum Beispiel bei einer Ausbildung zum Dachdecker“, sagt Neuropädiater Meusers. „Auch die Möglichkeiten der Verbeamtung, zum Beispiel im Lehrerberuf, sind bei einer chronischen Erkrankung wie der MS eingeschränkt. Davon abgesehen gibt es kaum Beschränkungen hinsichtlich der Berufe, die Betroffene erlernen und ausüben können.“
Geschwisterkinder sollten nicht zurückstecken müssen
Eine Erkrankung wie die MS hat oft Auswirkungen auf die ganze Familie – auch auf Geschwister. Die müssen manchmal zurückstecken, weil das betroffene Kind besonders viel Unterstützung benötigt. „Eltern sollten darauf achten, dass Geschwister ebenfalls Aufmerksamkeit bekommen“, rät Dr. Meusers. „Sie können zum Beispiel eine feste Zeit pro Woche vereinbaren, wo Mama oder Papa nur für das gesunde Kind da sind. Ganz wichtig ist es, miteinander zu sprechen und zu fragen, welche Bedürfnisse das gesunde Kind hat.“ In einigen Regionen werden Freizeiten für Geschwisterkinder von chronisch kranken Kindern angeboten. Ein Blick ins Internet lohnt sich, um entsprechende Angebote zu finden.
Wie die Diagnose MS das Leben von Marie verändert hat und wie sie heute mit der Erkrankung lebt kannst Du in dem Artikel „Ich lebe im Hier und Jetzt“ nachlesen.
Quellen:
1. https://www.kinderaerzte-im-netz.de/krankheiten/multiple-sklerose/, letzter Zugriff: 31.03.2022; 2. The Multiple Sclerosis International Federation Atlas of MS, https://www.atlasofms.org, letzter Zugriff: 31.03.2022; 3. MacAllister WS et al., Neurology 2007; 68 (16 Suppl 2): 66–69; 4. Deutsches Zentrum für MS im Kindesund Jugendalter, https://childrenms.de/, letzter Zugriff: 31.03.2022; 5. S1-Leitlinie „Pädiatrische Multiple Sklerose”, https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/ 022-014l_S1_Multiple-Sklerose_Kinderalter_2016-02-abgelaufen.pdf, letzter Zugriff: 31.03.2022.
MAT-DE-2201040-1.0-03/2022