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Mein inneres Chaos mit perfekter Fassade

Arm in Arm am Strand dem Sonnenuntergang zuschauen

Zugegeben: Auf einem Blog, der sich mit vielseitigen Themen rund um eine schwerwiegende Krankheit wie Multiple Sklerose dreht, würde ich persönlich nichts weniger erwarten als einen Blogeintrag über den „perfekten Look“. Aber hinter dem perfekten Look steckt eben oft mehr als das perfekte Aussehen.

Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb lohnt sich ein Blick hinter die Fassade (Achtung: Wortspiel!)

Das Aussehen und Schönheitsideale sind in unserer Gesellschaft Themen, die für viele sehr wichtig sind und doch auch kontrovers diskutiert werden, gerade auch bei jungen Frauen wie mir.

Schlank, aber nicht dürr sollte sie bitte sein. Ein paar Kurven an den richtigen Stellen wären nett, aber keinesfalls zu viel. Kurze Haare bei Frauen: Das ist doch maskulin, oder? Die Nase darf keinesfalls zu groß sein und vieles mehr.

Auch in meiner Jugend und dem frühen Erwachsenenalter hat mich das Thema „Aussehen“ sehr beschäftigt. Und wenn ich sage „beschäftigt“, dann meine ich „gequält“. Der Gedanke daran, nicht mit Gleichaltrigen mithalten zu können, auf der Strecke zu bleiben, war auch in Bezug auf meine Optik oft präsent.

Was sich mit dem Auftreten erster Symptome änderte

Die ersten MS-Symptome traten bei mir rückwirkend betrachtet etwa im Alter von 16–18 Jahren auf. Über kaum etwas habe ich mir in dem Alter so wenig Gedanken gemacht wie über typische Themen nach einer Diagnose wie Erwerbsminderungsrente, Hilfsmittel, Arbeitsunfähigkeit oder den nächsten MRT-Termin. Auch wenn gesundheitliche Probleme mehr in den Vordergrund rückten, war ich sehr viel häufiger damit beschäftigt, mich für anstehende Partys am Wochenende schick zu machen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, hat sich das mit dem Auftreten der ersten Symptome sogar noch verstärkt. Kann man Kranksein überschminken? Falls ja, dann habe ich genau das vermutlich jahrelang getan.

Wenn innen alles durcheinander ist, kann die Ordnung im Außen helfen, alles im Gleichgewicht zu behalten

Diesen Spruch habe ich mal irgendwo aufgeschnappt und für mich hat er sehr gut gepasst. Es ging mir schon damals an manchen Tagen so schlecht, dass es sich einfach gut angefühlt hat, normal auszusehen.

Gut auszusehen.

Ich wollte nicht, dass mir jemand die Fatigue ansieht oder an meinen Augenringen ablesen konnte, wie viel ich in den letzten 24 Stunden geweint hatte. Als gelernte Kosmetikerin fand ich schnell heraus, wie ich mich optisch bestmöglich präsentieren konnte, um dem gesellschaftlichen Idealbild zu entsprechen. All das schreibe und denke ich völlig wertfrei. War es richtig, meinen Schmerz zu überschminken? Falsch? Darauf gibt es keine Antwort, egal ob für mich und auch für jemand anderen. Für mich fühlte es sich für den Moment richtig an.

Julia im Porträt Schwarz-Weiß.  Bild-Quelle: s_o_s.photography

Wie stehe ich zur „Inszenierung“ des perfekten Looks heute?

Ich habe mir viele Gedanken über mich und mein Auftreten gemacht und tue es immer noch. Was ist WIRKLICH der Grund für mein Verhalten? Tue ich etwas, weil ich schlichtweg Spaß daran habe oder weil es mich von etwas anderem ablenkt? Was ich schnell gemerkt habe, ist, dass mir mein Verhalten von früher nicht guttat. Ich habe etwas übermalt, was ich selbst nicht sehen wollte und von dem ich noch viel weniger wollte, dass andere es sehen. Und das ist genau das, was mir auch als Kernaussage dieses Beitrags wichtig ist: Es muss sich richtig anfühlen, ganz ohne sich selbst zu belügen oder etwas zu übermalen.

Heutzutage gibt es mich in allen Formen, Farben und Facetten, die die Schmink- und Kleidungskiste so hergibt. Mal sehe ich aus, als hätte ich drei Tage in einem Braunkohlekraftwerk gehaust, mal wie aus dem Ei gepellt. Es gibt keinen perfekten Look für mich. Es gibt nur einen authentischen Look, der unterstreicht, wonach mir eben gerade ist. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen … (wer das bildliche Pendant zu diesem Kommentar sehen möchte, folge mir auf Instagram @mrs.myelin).

Und die Moral von der Geschichte?

Wer mich nicht kennt, erwartet an dieser Stelle vielleicht eine charmant formulierte Überleitung dazu, dass ich mittlerweile gelernt habe, dass Aussehen vergänglich, Charakter sowieso viel wichtiger ist und wir im Inneren alle schön sind. Wer mich jedoch kennt, weiß: So einfach will ich es mir nicht machen. Ich kann Euch also beruhigen – das hier soll nicht der nächste Ratgeber für innere Zufriedenheit sein.

Ich habe das Gefühl, dass wir uns mit der Vollendung des 18. Lebensjahrs einen vorgefertigten „Reaktionskatalog“ auferlegen. So musst Du reagieren, wenn Du krank wirst. So, wenn jemand stirbt. Und so, wenn Du Deinen Job verlierst. Das funktioniert nicht und kann auch nicht gesund sein. Wie wir Menschen mit Krisensituationen umgehen, ist ein individueller Vorgang und wird von so vielen Mechanismen beeinflusst, dass es hier kein Richtig oder Falsch als einfache Antwort gibt. Auch wenn ich an dieser Stelle in die Kategorie der ausgelutschten Ratschläge rutsche, erinnere ich deshalb genau daran, das zu tun, was sich in genau dem Moment richtig anfühlt: Wenn das ein Full-face-Make-up mit künstlichen Wimpern ist: Go for it! Wenn Dir danach ist, die Haare nicht zu kämmen und sie zu einem wilden Zopf zu verknoten: Bitte! Aussehen darf Spaß machen und auch völlig in den Hintergrund treten.

Ich wünsche Euch allen von Herzen, dass Ihr wisst, dass Ihr gut und genug so seid, wie Ihr seid, egal nach welchem „Look“ Euch gerade ist.

Julia im Porträt Schwarz-Weiß.  Bild-Quelle: s_o_s.photography

MAT-DE-2201196-1.0-03/2022