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Meine liebe Jolanthe

Die Räder eines Rollstuhls

Meine liebe Jolanthe, als die Ärzteschaft mir das erste Mal recht unverblümt vor den Latz geknallt hat, dass die olle Tante Multiple Sklerose bei mir eingezogen ist und wohl auch nie wieder auszieht, entstand vor meinem geistigen Auge ein Bild von einem riesigen grauen Rollstuhl, der vor mir auf dem Weg steht und ihn versperrt:

Groß, grau, hässlich, nach Furz riechend und zu allem Überfluss auch noch metallisch neckisch funkelnd, als wolle er mir sagen: „Du und ich, wir werden sagenhaft dicke Freunde werden, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes!“

Niemals!

Puppe, die in einem Rollstuhl sitzt

Dabei blieb es. Vorerst.

Mein Mann und ich sind immer gern bummeln gegangen. Wir lieben es, durch die Stadt zu schlendern, mal hier zu gucken, mal da was zu essen oder zu trinken, was anzuprobieren, sich über komische Klamotten kaputtzulachen oder einfach nur Eis essend auf einer Bank zu sitzen und Menschen zu betrachten. Da meine Beine immer häufiger beschlossen, sich zeitweise in Betonfundamente zu verwandeln, ich allerdings nicht den Mumm hatte, das meinem Mann auch zu sagen, erfand ich immer neue Ausreden, warum ich gerade nicht in Stadtbummel-Laune war.

Mal hatte ich hier noch was zu erledigen (was ich natürlich auch zu jedem anderen Zeitpunkt hätte tun können, ich bin ja Rentnerin), mal war mir da das Wetter zu schlecht oder zu gut und mal habe ich auch einfach „keine Lust“ vorgeschoben. Mein Mann war traurig und frustriert – ich war wütend und frustriert. Nur die olle Tante, die war quietschfidel. In den hinteren Windungen meines Gehirns suselte der Gedanke an einen Rollstuhl schon herum, ich habe ihn nur immer wieder schnell dahin geschickt, wohin auch hin und wieder Namen, Termine und Begriffe für alle möglichen banalen Dinge des täglichen Lebens verschwinden: Ins Gehirn-Nirwana.

Der Griff eines Rollstuhls

Es kam auch nicht ein Moment der Erkenntnis oder ein Anfall von Weisheit, der meine Meinung geändert hätte. Es war vielmehr so eine Art Dämmerung, ein Näherkommen von Dingen, die mir ganz und gar nicht behagten. Die olle Tante knapst mir immer mehr Dinge ab, die mir Spaß machen, die das Leben lebenswert, bunt und interessant machen. Ein ganz elementarer Bestandteil meines Lebens war und ist nun mal das Herumbummeln mit meinem Mann in der Stadt. Punktum.

Liebe Jolanthe, ich beschloss, dass wir uns doch wenigstens kennenlernen sollten. Nur für den Fall….nicht im Ernst, aber ansehen kostet ja nichts. Ich hatte das Glück, an einen ganz wunderbaren Orthopädiefachhändler zu geraten. Mein Mann und ich haben stundenlang probegesessen und -gefahren. Meine einzige unverrückbare Bedingung an dein Outfit: kein Grau, kein hämisch grinsendes Edelstahl. Das hat geklappt und ich bin sehr zufrieden mit deinem Äußeren.Ich bin auch zufrieden mit deinem Inneren:

"Das ist meine Hommage an dich, meine liebe Jolanthe. Ich kann mit dir überall hin, solange wie ich will und so oft wie ich will. Du gibst mir meine Freiheit zurück. Danke!"

(Christina)

GZDE.MS.16.04.0444