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In Balance: selbstbestimmt leben mit Multipler Sklerose

Alexandra entspannt lächelnd am Strand.

Stell dir einmal vor, jemand hätte eine Fernbedienung in der Hand, mit der diese Person dein gesamtes Leben steuern kann. Jede Taste steuert dein Leben. Mit nur einem Tastendruck wird bestimmt, wie du dich bewegst, was du machst, wie du etwas machst, wie du dich fühlst und was du denkst.

Wie fühlt sich das an? Schrecklich, oder?

Monatelang fühlte ich mich so. Fremdbestimmt. Fremdbestimmt durch Multiple Sklerose.

Als ich meine MS-Diagnose bekam, war ich gerade mal 21 Jahre alt und mitten in meiner Ausbildung zur Krankenschwester. Plötzlich war ich nicht mehr die Pflegende, sondern die Patientin. Auch wenn ich meine Ausbildung nicht abbrechen musste, war ich immer wieder arbeitsunfähig.

Mit der Zeit ging es mir körperlich zwar wieder besser, allerdings ging es mir mental und emotional sehr schlecht. Ich rutschte in eine Depression – ausgelöst durch die körperliche Erkrankung Multiple Sklerose. Oft gab es Tage, an denen ich gar nicht aus dem Haus ging oder mich mit Freunden traf.

In der ersten Zeit nach meiner Diagnose MS habe ich mir die Kontrolle nehmen lassen. Ich war fremdbestimmt. Ich hatte das Gefühl, ich sei ohnmächtig meinem Leben ausgeliefert.

Ich ließ meine Familie nicht mehr an mich heran oder an meinem Leben teilhaben. Ich fühlte mich durch die Erkrankung anders, schwach und nicht verstanden. Ich zog mich zurück und wollte niemanden in meiner Nähe haben. Es war wie ein Teufelskreis: Dadurch, dass ich mich absichtlich alleine zurückzog, fühlte ich mich alleine, und weil ich mich alleine fühlte, zog ich mich zurück.

Auch als ich körperlich wieder fitter war, wollte ich nach dem Ende meiner Ausbildung keinen Job mehr ausüben, weil ich dachte, ich wäre zu schwach und würde die Arbeit sowieso nicht mehr schaffen.

Mein gesamtes Leben, jeder Tag, sogar jeder Gedanke war bestimmt durch die MS-Diagnose und die Auswirkungen der Erkrankung. Ich war traurig, lustlos und antriebslos. Doch auch immer wieder wütend. Wütend auf mich, auf die Multiple Sklerose, auf die ganze Welt!

Ich fühlte mich als Opfer der MS, als Opfer meiner Welt. Und es dauerte, bis ich verstand, dass ich nicht Opfer bin.

Ich bin die Schöpferin meines Lebens!

Lange hatte ich das Gefühl, als würde ich jeden Morgen mit einem Schleier um mich herum aufwachen, der dafür sorgte, dass ich mein Leben nur noch unklar, getrübt und beengt erlebte – das wollte ich nicht mehr. Ich musste endlich etwas verändern! Also übernahm ich Verantwortung für mein Leben, denn nicht „etwas“ musste sich verändern, sondern ICH durfte mich verändern.

Ich begann zu verstehen, dass ich selbst darüber entscheiden kann, wie ich mich fühle und wie ich über mich und andere denke, auch wenn die MS da ist. Dadurch veränderte sich meine (innere) Welt.

Alles fing an, als mir Bücher zum Thema Persönlichkeitsentwicklung in die Hände fielen. Wie aus dem Nichts verschlang ich ein Buch nach dem anderen und hörte Podcasts. Und immer wieder ging es um das Thema Träume, Glück und Selbstverantwortung.

Zeitgleich begann ich mit Yoga und der Meditation. Auf diesen Säulen erschuf ich mein neues Leben. Selbstbestimmt! Es dauerte ein bisschen, bis mir das so richtig gelang.

Mein Weg zurück zum selbstbestimmten Leben

Zu Beginn war es nicht einfach, wenn ich wieder körperliche Ausfälle aufgrund der MS hatte. Deswegen gab es anfangs immer wieder kleine Rückschläge. Meine Sorgen und Ängste davor, körperlich immer eingeschränkter zu werden, ließen sich hin und wieder mal blicken. Aber es gelang mir immer besser, für mich zu erkennen, dass ich auch mit körperlichen Einschränkungen mein Leben (mit-)bestimmen kann.

Ich wollte einfach nicht mehr so traurig sein wie die Monate zuvor – denn das brauchte ich nicht! Ich erkannte meine Bedürfnisse und meinen Wert.

Ich wollte wieder unter Menschen! Unter Menschen, bei denen ich mich wohlfühlte. Ich wollte wieder einen Alltag, bei dem ich morgens schon mit einem Lächeln aufwachte.

Ich suchte mir einen neuen Job, der nicht über meine Grenzen ging. Dabei traf ich auf den Bereich Psychotherapie. Da mich der Bereich Psychologie zu dieser Zeit sowieso schon interessierte, begann ich als Krankenschwester in einer Psychiatrie zu arbeiten.

Außerdem traf ich mich wieder regelmäßig mit meinen Freunden, was meine Stimmung auch ansteigen ließ. Wir unternahmen wieder gemeinsame Dinge und ich hatte endlich wieder Spaß in Gemeinschaft.

Durch meine persönliche Weiterentwicklung fand ich auch neue Menschen, die in ähnlichen Situationen wie ich steckten. Ich besuchte wieder mit anderen Konzerte, Partys, aber auch Vorträge, die mich inspirierten.

Ich traute mich auch, mit meiner Familie und meinen Liebsten über mich und meine Gefühlswelt zu sprechen – auch das entlastete mich und, wie ich zu hören bekam, auch sie.

Ich merkte, wie viel glücklicher ich wurde, wenn ich mein Leben selbst in die Hand nahm. Selbst an Tagen, an denen die MS aktiv war, spürte ich, dass ich alles, was ich wirklich brauche, um inneren Frieden und somit Freude in meinem Leben zu erschaffen, da ist.

Ich lernte, dass es auch nach Tagen, an denen es mir schlecht geht (was auch mal sein darf!), wieder Tage kommen, an denen ich glücklich bin!

Alexandra auf einem Bein in Balance am Meer.

Ich gestalte meine Lebenszeit

Heute halte ich wieder selbst die Fernbedienung in der Hand und habe die Macht über fast jeden Knopf und somit über mein Leben zurückgewonnen.

Ich bestimme meine Freizeit, meine Hobbys, mein Umfeld, meine Freunde, meinen Alltag: die Gestaltung meiner Lebenszeit! Ja, sogar meinen Beruf bestimme ich. Ich arbeite immer noch als Krankenschwester in einer Klinik für Psychosomatik und Psychiatrie.

Außerdem bin ich Autorin geworden. Denn durch meine Reise mit der Multiplen Sklerose und den vielen Höhen und Tiefen kam ich auf die Idee, ein Buch zu schreiben. Ich wollte meine Geschichte mit anderen Betroffenen teilen, um Mut zu machen! Ich bin aktive Bloggerin und teile meine Erfahrungen im Umgang mit der MS leidenschaftlich und mittlerweile auch beruflich.

Der Weg dahin war und ist kein Kinderspiel. Vor allem, wenn es eine Krankheit gibt, die immer wieder dazwischenfunkt.

Für mich war es auch gegenüber meinen Mitmenschen anfangs schwierig, meine Grenzen und Bedürfnisse aufzuzeigen. Doch ich habe gelernt, mich von dem abzugrenzen, was mir nicht mehr dient. Denn auch das gehört für mich zu einem selbstbestimmten Leben dazu.

Ich kann heute sagen, dass die MS mich erst dazu gebracht hat, dass ich mein Leben neu gestaltete und Verantwortung für mich übernahm. Ich habe gelernt, immer wieder aufzustehen, auch wenn ich mal falle. Und auch wenn etwas passiert, was ich nicht kontrollieren kann, kann ich immer entscheiden, wie ich darauf reagieren möchte.

Jeder Morgen hält neue Wunder für mich bereit, die ich selbst erschaffe – nicht trotz der MS, sondern mit der MS.

MAT-DE-2204753-1.0-11/2022