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Gedanken einer Mutter nach der MS-Diagnose bei ihrer Tochter

Mama Bärbel und Tochter Swenja

Der 4. Januar 2017, ein ganz normaler Mittwoch? Für viele Menschen sicherlich ja, in unserer Familie herrscht Aufregung. Meine Tochter Swenja kann endlich zur Untersuchung zu einem Neurologen. Doch sie wohnt in Leipzig, ich in Dessau, also kann ich leider nicht dabei sein. 

Irgendjemand hält den Zeiger dieser verdammten Uhr fest. Wieder ein Blick auf das Telefon, hast du es vielleicht nicht klingeln gehört? Nein, alles ruhig. Es klingelt. Nein, sie ist es nicht. „Wir haben da ein tolles Angebot für Sie!“ Schnell auflegen. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, klingelt das Telefon und meine Swenja ist dran. „Mama, ich habe MS“, kommt es zwischen vielem Schluchzen hervor. Mein Kind steht heulend auf der Straße in Leipzig, ohne ihre Mutter an der Seite und innerhalb von Sekunden hat die Welt sich verändert. 

Was soll ich jetzt sagen, ohne dass es sich platt anhört? Die üblichen Floskeln: „Das schaffst du schon!“ Wie hohl. Innerhalb von ein paar Sekunden ist eine Tür zugeschlagen, die sich so nie wieder öffnen wird. Aus einem gesunden Menschen ist ein unheilbar kranker Mensch geworden. Mir schießen die Tränen in die Augen. Du darfst jetzt nicht weinen, sei stark für deine Tochter!

Ja, ich denke: „Warum sie und nicht ich?“ Aber was soll dieser Quatsch? Es hilft ihr nicht und mir auch nicht. Also weiter mit der Plattitüde von wegen es wird alles gut, du stehst das durch, andere leben auch mit MS. Was rede ich denn da für einen Quatsch? Natürlich leben andere Menschen auch mit der MS, aber wie sieht ihr Leben mit dieser Krankheit aus? Zu diesem Zeitpunkt weiß ich es einfach nicht. Etwas Positives hat das Ganze doch. Wir wissen endlich, was mit ihr los ist und eine Odyssee von über einem Jahr hat seinen Höhepunkt erreicht. Wir beenden das Gespräch und ich kann endlich meinen Tränen freien Lauf lassen. Es tut so unendlich gut.

Eine Stunde nach dem Anruf habe ich mich wieder im Griff und überlege, wie ich ihr helfen kann. Meine ersten Gedanken sind bei ihrer Beziehung zu ihrem Freund, hält er trotz der MS zu ihr und was, wenn nicht? Was wird aus dem gerade erst begonnenen Lehrerstudium – weiter studieren oder zurück in den gelernten Beruf? Kann sie noch Kinder bekommen oder ist es mit MS nicht sinnvoll? Alles Fragen, die ich noch nicht beantworten kann, zu wenig weiß ich über diese Krankheit.

An diesem Mittwoch ist alles anders geworden. Wo geht eine neue Tür für uns alle auf, und wie sieht es dahinter aus?

Die Tür ging sehr schnell auf, meine Tochter suchte Gleichgesinnte und fand diese auch sehr schnell. So entwickelte sich ein reger Gedankenaustausch und es entstanden Freundschaften. Sie musste nun erst einmal etliches an Untersuchungen über sich ergehen lassen und die Ergebnisse waren nicht immer schön. Die Entscheidung, welches Medikament das richtige ist, musste getroffen werden. Glauben Sie mir, so gründlich habe ich noch nie die Beipackzettel von Medikamenten gelesen! 

Swenjas Neurologin erwies sich als Glücksgriff. Sie beantragte sehr schnell eine Reha-Maßnahme für sie. Also fuhren wir schon im März gemeinsam nach Bad Klosterlausitz und bei mir entstand der Eindruck, dass Swenja hier gut aufgehoben ist.

Langsam kehrte etwas Ruhe ein, wenn auch der Gesundheitszustand nicht optimal war

Die Zeit in der Klinik verging wie im Flug, Swenjas Freund war aus England zurück und die beiden konnten dann in aller Ruhe das nächste Studienjahr in Angriff nehmen. Aber die Ruhe täuschte, irgendwann im Mai der nächste Schock: Swenja hatte mehrere epileptische Anfälle – auch das eine Folgeerscheinung der MS. Ich dachte nur: was sonst noch alles? Reichen ein vermindertes Sehvermögen, nicht geradeaus laufen zu können und etliche geschädigte Nervenbahnen für einen Menschen nicht völlig aus?

Wir bekamen sofort für den nächsten Tag einen Termin bei ihrer behandelnden Ärztin, diesmal konnte ich meine Tochter begleiten und wir fuhren gemeinsam nach Leipzig. Anfangs konnte ich die Euphorie meiner Tochter für diese Ärztin nicht so richtig verstehen (vielleicht war ich auch eifersüchtig). Nachdem wir aber die Praxis wieder verlassen hatten, war ich nur am Schwärmen und habe mich für meine Tochter über diese tolle Ärztin gefreut.

Das Ergebnis der Konsultation waren neue Medikamente und auch nach deren Einnahme dauerte es noch eine ganze Weile, bis die epileptischen Anfälle nachließen. In der Zwischenzeit absolvierte ich in Leipzig an der Uni einen Sprachkurs in brasilianischem Portugiesisch und so führte mich mein Weg montags und mittwochs nach Leipzig. Wenn es der Stundenplan von Swenja zuließ, haben wir uns immer vor dem Unterricht beim „alten Leibniz“, der steht auf dem Campus als Statue, getroffen. Das war toll! Ich konnte meine Tochter zweimal in der Woche sehen.

Manchmal kam mir eine junge Frau entgegen, der man es nicht ansah, wie krank sie ist. Oder es kam jemand, der wankend über den Campus lief, weil die Beine einfach nicht machen wollten, was sie sollten. Diese Augenblicke waren jedes Mal die Hölle. Nichtsdestotrotz verging die Zeit und zum Abschluss des Semesters folgte für sie ein mehrwöchiger Englandaufenthalt. Also musste alles organisiert werden: genügend Medikamente, dafür die Bescheinigungen für den Zoll, dass diese notwendig sind und so weiter.

Kurz gesagt: Der Aufenthalt in England verlief mit Erfolg und alle waren froh, als die Zeit vorbei war

Nun gehört zum Lehrerstudium auch ein Praktikum an einer Schule ihrer Wahl und ihre fiel auf eine Schule in Dessau. Wir fuhren also gemeinsam mit dem Fahrrad dorthin und auch wieder zurück, da sie nicht mehr Auto fahren konnte wegen der Sehstörungen. Mit dem Fahrrad war es auch nicht besser – sie sah die entgegenkommenden Radler nicht. Wie schnell man als vermeintlicher Normalo vergisst, wie es dem anderen geht, ein Schock. Die MS machte dem Berufswunsch einen Strich durch die Rechnung: Die körperliche und auch geistige Belastung in diesem Beruf ist einfach zu hoch, als dass sie diese durchgestanden hätte.

Nach einer erneuten Konsultation mit Ihrer Ärztin war sehr schnell klar, dass sie den Lehrerberuf nicht ausüben kann. Was nun? Was kann sie mit zwei Semestern Studium anfangen und in welche Fachrichtung wechseln, ohne dass die Zeit verloren wäre? Dank der Zielstrebigkeit meines Kindes machte sie aus der gegebenen Situation das Beste und alle Abschlüsse des ersten Studienjahres wurden anerkannt.

Da Swenja gerne schreibt, war der Wechsel zum Studienfach Germanistik eigentlich logisch

Sie schreibt ja auch schon seit fast mit dem Beginn der MS-Diagnose einen Blog, in dem ihr viel Sympathie entgegenkommt. Anfangs war es für mich unheimlich schwer, den Blog zu lesen. Es tat einfach nur weh. Ich fühlte mich einfach zu ohnmächtig, einfach zusehen zu müssen und nicht wirklich helfen zu können. Das war für mich eine unerträgliche Situation. Jetzt bin ich auf jeden neuen Eintrag gespannt und lese ihn mit dem nötigen Abstand und ja, auch teilweise mit Vergnügen. Zwischenzeitlich gab es auch schon wieder ein neues Praktikum, diesmal bei einer Zeitung. Es wurde mit Erfolg absolviert und wer weiß, vielleicht wird ein Beruf daraus. 

Ja, liebe Leser, sie sehen: Die Tür ist offen, es geht weiter, ihr Freund ist immer noch bei ihr (danke, lieber Jens, dass du mein Schwiegersohn wirst) und die beiden denken über Kinder nach und das freut mich natürlich auch. Dann werde ich Oma!

Ich wurde gebeten, diesen Artikel aus der Sicht einer Familienangehörigen zu schreiben. Ich habe es gern getan, auch um anderen in der gleichen oder einer ähnlichen Situation Mut zu machen, niemals aufzugeben, das Vertrauen in die Betroffenen nicht zu verlieren und einfach für sie im Rahmen des Möglichen da zu sein.

Ich wurde neulich gefragt, ob ich an Schutzengel glaube, und ich habe die Frage bejaht. 

Ich hoffe, ich habe Sie nicht gelangweilt, und beim Lesen hatten Sie eine angenehme Zeit.

Herzlichst

Ihre Bärbel Brauer (die Mutti eines ganz starken Mädchens)

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