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Corona-Virus und MS: Besteht ein erhöhtes Risiko?

Die Konsequenzen der weltweiten Verbreitung von Coronaviren und die damit verbundenen Gesundheitsrisiken bewegen die Gemüter rund um den Globus. Es wird in den Berichten stets betont, dass insbesondere ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen gefährdet sind.

Wie sieht die Situation konkret bei einer Multiplen Sklerose aus? Und muss eventuell die MS-Therapie angepasst werden?

Zu diesen Fragen gibt es inzwischen Antworten von den Experten:

Coronaviren

    „Die Multiple Sklerose stellt per se kein Risiko für schwere COVID-19 Verläufe dar“, heißt es in einer Stellungnahme des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS). Dennoch gelten zusätzlich zu MS-unabhängigen Risikofaktoren wie dem Alter auch MS-spezifische Risikofaktoren. Dazu gehören deutliche Einschränkungen und bestimmte Immuntherapeutika, die den Aufbau einer effektiven Immunantwort behindern.1

    Menschen mit MS, die eine stärkere Behinderung aufweisen, also auf einen Rollstuhl angewiesen oder bettlägerig sind, haben generell ein erhöhtes Risiko für Atemwegserkrankungen. Sie stecken sich zwar nicht häufiger mit Erregern an, können wahrscheinlich aber beim Kontakt mit SARS-CoV-2 einen eher schweren Krankheitsverlauf zeigen. Darauf weist die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) hin.2

    Wer eine Therapie mit S1P1-Modulatoren oder eine B-Zell-depletierender Therapie erhält, erreicht möglicherweise nur eine etwas reduzierte Immunantwort auf eine Impfung gegen COVID-19.1 Trotzdem ist die Impfung der beste Schutz.

    Die derzeit bekannte Zahl der in Deutschland infizierten MS-Patienten liegt laut DMSG mit Stand vom 17. April 2020 aber „deutlich unter dem statistisch erwarteten Wert“ und das unterstützt die Annahme, dass „kein primär erhöhtes Risiko aufgrund der MS besteht“.2

    Quelle:
    1. Stellungnahme des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) vom 21. Januar 2022, www.kompetenznetz-multiplesklerose.de. Letzter Zugriff 30. März 2022. 2. Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), www.dmsg.de. Letzter Zugriff 30. März 2022.

    Bei der MS kann allerdings eine besondere Situation bestehen, wenn zur Behandlung der Multiplen Sklerose Wirkstoffe eingesetzt werden, die immunsuppressiv wirken, die also das körpereigene Immunsystem herunterregulieren. Dabei ist zwischen dem Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren, und der Gefahr von Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf im Fall einer COVID-19-Erkrankung zu unterscheiden. Keinesfalls darf die Medikation eigenmächtig geändert werden. Es sollte immer eine Rücksprache mit dem behandelnden Arzt erfolgen.

    Im Hinblick auf das Infektionsrisiko raten die Experten des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) Menschen mit MS dazu, eine eingeleitete Behandlung fortzuführen und das gilt auch für eine „immunsuppressive und immunmodulierende Therapie“. Denn das Absetzen der Medikamente oder auch eine Dosisveränderung könne den Verlauf der Multiplen Sklerose verschlechtern und möglicherweise die Entwicklung eines akuten Schubes provozieren.1

    Auch die Kommission Neuroimmunologie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) warnt Menschen mit einer neurologischen Autoimmunerkrankung wie der MS ausdrücklich vor „einem unbedachten Absetzen der Therapie ohne Rücksprache mit dem Arzt“. Ein Behandlungsabbruch könne zu einer deutlichen Verschlechterung der Autoimmunerkrankung führen und das stehe in aller Regel nicht in Relation zu dem Risiko, an COVID-19 zu erkranken, heißt es in einer Pressemitteilung der Gesellschaft. Auch eine gut eingestellte Immuntherapie, die stabil die Erkrankung kontrolliert und ihr Fortschreiten verhindert, solle vor diesem Hintergrund nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.3

    Menschen mit MS sollten deshalb wie alle anderen Personen versuchen, sich durch entsprechende Hygienemaßnahmen und das Vermeiden von Kontakten mit anderen Personen außerhalb des Haushalts möglichst optimal vor einer Infektion zu schützen. Das gilt in besonderem Maße für Patienten, die Medikamente erhalten, welche zunächst Immunzellen aus dem Blut entfernen und bei denen dadurch vor allem in den ersten Wochen nach Behandlungsbeginn generell eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Die Betroffenen sollten sich in dieser Zeit besonders schützen.

    Bei älteren Patienten oder Patienten mit begleitenden Herz- oder Lungenerkrankungen werden die behandelnden Ärzte laut KKNMS in der Zeit der Corona-Pandemie in aller Regel die Einleitung einer Therapie, die Immunzellen aus dem Blut entfernt, nach Möglichkeit verschieben. Gibt es Anzeichen einer Infektion, so wird per se auch unabhängig von der Corona-Problematik keine immunsupprimierende Behandlung begonnen, sondern damit gewartet, bis die Infektion vollständig abgeklungen ist.1

    Weiterführende Informationen zu den einzelnen Medikamenten in Bezug auf SARS-CoV-2 kannst Du auch auf der Seite der DMSG finden.3

    Quelle:

    1. Stellungnahme des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) vom 21. Januar 2022, www.kompetenznetz-multiplesklerose.de. Letzter Zugriff 30. März 2022. 3. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) vom 27. März 2020, www.dgn.org, Letzter Zugriff 30. März 2022.

    Nicht ganz klar ist bislang laut KKNMS, ob und wie sich immunsuppressive Medikamente auswirken, wenn es zum Ausbruch der Infektionskrankheit, also zu Covid-19, kommen sollte.4

    Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang ein kurzfristig erhöhtes Infektions- und auch Krankheitsrisiko, wenn aufgrund eines akuten Schubes eine Kortisonbehandlung zu erwägen ist. Denn auch Kortison wirkt immunsupprimierend. Vor der Aufnahme einer solchen Behandlung müssen Nutzen und Risiken der Maßnahme sorgfältig abgewogen werden, rät das KKNMS. So sollten entsprechend den Angaben von Amsel e. V. Arzt und Patient vor allem bei leichteren Schüben miteinander abstimmen, ob eine Kortisonbehandlung notwendig ist. Wird diese begonnen, muss außerdem sorgfältig auf etwaige Infektionszeichen geachtet werden. Gegebenenfalls ist auch zu erwägen, dass ein Patient nach einer Kortisongabe zu Hause bleibt und Kontakte mit Mitmenschen vermeidet, um sich zu schützen. Das kann laut DMSG möglicherweise bei Berufstätigen eine Krankschreibung notwendig machen.

    Von regelmäßigen Kortisonpulstherapien ohne Schubsymptomatik rät die KKNMS aktuell ab.4

    Quelle: 
    4. Stellungnahme des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) vom 13. März 2020, www.kompetenznetz-multiplesklerose.de. Letzter Zugriff 30. März 2022.

    Bislang gibt es keine eindeutigen Hinweise dafür, dass das Risiko, sich mit dem neuartigen Coronavirus zu infizieren, bei Menschen mit Multipler Sklerose erhöht ist. Auch ist nicht gesichert, dass der Krankheitsverlauf anders ist als bei Personen ohne MS. Allerdings ist die derzeitige Datenlage nicht ausreichend, um diese Fragen eindeutig beantworten zu können, heißt es in einer Presseerklärung des Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple
    Sklerose (KKNMS). 

    Um die Datenlage zu verbessern wurde das europäische Patientenregister LEOSS ins Leben gerufen. Das Ziel von LEOSS („Lean European Open Survey on SARS CoV II Infected Patients“; https://leoss.net) ist es, europaweit das Outcome von COVID-Patienten zu erfassen. Auf Initiative des KKNMS ist es hier auch möglich, sowohl die Multiple Sklerose als Komorbidität anzugeben, als auch für diese Patienten die aktuelle Immuntherapie und die
    neurologische Behinderung vor und nach COVID-19 zu dokumentieren. 

    „Wir hoffen, mit den Registerdaten in Zukunft wichtige Forschungsfragen beantworten zu können, beispielsweise, ob die MS und deren Immuntherapie ein Risikofaktor für COVID sind und wie sich die Erkrankung auf das Outcome auswirkt“, so Prof. Dr. Achim Berthele, leitender Oberarzt am Klinikum rechts der Isar in München und Mitglied der KKNMS Study Group.

    Die Erfassung von Menschen mit MS und COVID-19 im LEOSS-Register wird auch von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) Bundesverband e. V. unterstützt.

    Die Verunsicherung in Zeiten der Corona-Pandemie ist groß. Das gilt insbesondere für Menschen mit einer chronischen Erkrankung wie der Multiplen Sklerose. Privatdozent Dr. Mathias Buttmann aus Bad Mergentheim hat deshalb in einem Ratgeber mit dem Titel „Die Corona-Pandemie – Eine Akuthilfe für Menschen mit MS und ihre Ärzte“ das derzeitige Wissen zu der Problematik zusammengefasst. „Viele Menschen mit MS sorgen sich jetzt besonders. Sie wollen wissen, ob eine MS oder deren Immuntherapie ein höheres Risiko für eine Infektion mit dem Coronavirus bedeuten“, schreibt Buttmann. Und sie wollen Verhaltensempfehlungen für die aktuell schwierige Zeit.

    „Es herrscht Verunsicherung und viele Arztpraxen haben zu oder nur teilweise geöffnet“, berichtet Buttmann, Chefarzt der Klinik für Neurologie und stellvertretender Ärztlicher Direktor am Caritas-Krankenhaus Bad Mergentheim. Der von ihm verfasste Ratgeber stellt – so heißt es explizit - eine Einzelmeinung dar und ersetzt keinen Expertenkonsens. Er gliedert sich in drei Kapitel:

    - Empfohlene Schutzmaßnahmen
    - Empfehlungen zur Immuntherapie
    - Ernährung und Verhalten.

    Die Angaben im Ratgeber basieren laut Buttmann vor allem auf den Erfahrungen im MS-Zentrum „Ospedale Papa Giovanni XXIII“ im italienischen Bergamo. Sie stimmen hinsichtlich der Multiplen Sklerose „hoffnungsvoll“. Erfasst wurden in dem Zentrum bis zum 20. März dieses Jahres knapp 60 Patienten mit MS und vermuteter COVID-19 Infektion. Keiner der Patienten musste ins Krankenhaus und keiner ist an der Infektion verstorben. Nur wenige der betroffenen Patienten wurden mittels einer sogenannten depletierenden und/oder immunsuppressiven Therapie behandelt. Dabei zeigte sich in Fällen mit einer entsprechenden Behandlung „bislang kein Einfluss solcher Therapeutika auf die Häufigkeit oder Schwere von COVID-19“, schreibt Buttmann in seinem einführenden Kapitel des Ratgebers. 

    Generell auffällig war nach seinen Angaben, dass die Infektionsrate unter MS-Erkrankten in Bergamo etwa fünfmal niedriger war als in der dortigen Gesamtbevölkerung. Dass sich MS-Erkrankte in Bergamo wesentlich seltener als die Gesamtbevölkerung infiziert haben, liegt laut Buttmann wahrscheinlich daran, dass sie vorsichtiger als der unbesorgtere Durchschnitt der Bevölkerung waren. In den weiteren Kapiteln folgen detaillierte, sich vor allen an Ärzte richtende Empfehlungen hinsichtlich der MS-Therapie. Das dritte Kapitel richtet sich dann wiederum an Patienten und gibt umfassende Tipps zur Ernährung und allgemeinen Lebensführung in Zeiten der Corona-Epidemie.

    Der Ratgeber „Die Corona-Pandemie – Eine Akuthilfe für Menschen mit MS und ihre Ärzte“ ist im Internet verfügbar. Das Dokument kann über die Webseite von Amsel e.V.  (Link zum pdf) vom Server des Caritas-Krankenhauses in Bad Mergentheim kostenlos heruntergeladen werden.