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„Echt, MS?“ – warum diese Reaktion mich nicht mehr verletzt (und trotzdem manchmal nervt)

Die Frage nach dem Beruf ist wohl eine der ersten, die uns gestellt wird, wenn wir eine neue Person kennenlernen. „Und, was machst du so?“ Für manche eine ganz normale Floskel, ein Ausdruck der Höflichkeit. Für mich: Spießrutenlauf. Vorurteilsregen.
Denn meine Antwort lautet meistens: „Ich bin Autorin, unter anderem eines Blogs und eines Buches.“ Und da Blogger ja keine besonders beliebte Spezies sind (obwohl wir echt nett sind! Wirklich!), füge ich meist noch hinzu, dass ich über Multiple Sklerose schreibe. Mein Gegenüber zieht dann die Augenbrauchen hoch: „Oh, wie interessant. Wie kommst du denn dazu? Bist du Ärztin?“
Dann folgt meine Antwort, dass ich selbst seit fünf Jahren MS habe, und das Szenario, das ich schon hunderte Male gesehen habe, beginnt, sich wieder abzuspielen.
Es fängt damit an, dass meinem Gegenüber die Kinnlade herunterfällt (wirklich).
WAS? MS? DU???
Ja, MS. Ich.
Dann wandert der Blick an mir herunter, was übrigens nie, ob krank oder gesund, ein angenehmes Gefühl ist. Ich sehe, wie nach dem Rollstuhl, meiner Gehhilfe oder einer anderen sichtbaren Behinderung oder Beeinträchtigung gesucht wird. Nach dem, `was bei mir nicht stimmt´.
Leider muss ich meine Gesprächspartner dann enttäuschen: Man sieht mir meine MS nicht an. Was übrigens bei vielen betroffenen Personen der Fall ist. Wenn man mich auf der Straße vorbeigehen sieht, dann wirke ich wie jede andere junge Frau. Ich lache, ich bin unbeschwert, ich gehe tanzen und joggen und strotze nur so vor Energie.
Ja, das ist das, was man sieht. Dennoch habe ich ein extra Gepäckstück zu tragen
Eines, das dem Außenstehenden verborgen bleibt. Das mich an den schlechten Tagen nicht richtig aus dem Bett kommen lässt. Das mein linkes Bein mit Blei füllt, Blitze meine Augen durchzucken und Schwindel mein Hirn malträtieren lässt. Nein, das sieht man nicht.
Man sieht nicht, wie ich jeden Morgen, wenn ich aufwache, erst mal einen Symptomcheck durch meinen Körper laufen lasse: „Hallo, linkes Bein, linker Arm – wie geht es uns denn heute? Frisch und munter oder eher auf Kollisionskurs? Und ihr, liebe Augen – wird das heute noch was mit der klaren Sicht oder sollen wir es lieber morgen noch mal probieren?“
Ich stelle diese Fragen an meinen Körper spaßhaft – weil ich keine Lust mehr habe, daran zu verzweifeln. Keine Lust mehr habe, zu weinen. Also lache ich, auch wenn es manchmal ein schmerzliches Lachen ist, ja, auch wenn ich mir manchmal nicht mehr als ein verächtliches Schnauben abringen kann über die Kapriolen meines Körpers. Aber ich will nicht mehr leiden, zumindest nicht zusätzlich zu dem, was mich eh immer mal wieder hier und da nervt.

MS ist oft nicht sichtbar, aber das macht sie nicht weniger präsent
Denn auch wenn man es nicht sieht, spürt man es. Ich zucke auf der Straße zusammen, weil aus heiterem Himmel ein stechender Schmerz hinter meine Augäpfel fährt. Man schaut dann nur irritiert zu mir hin, wenn ich plötzlich die Augen zukneife. Manchmal schwappt zäher Schwindel über mich, der mich wanken lässt, der mir höchste Konzentration dabei abverlangt, geradeaus zu laufen. Sieht lustig aus – ist es aber nicht.
Dieses Maß an Konzentration, das es erfordert, jede Bewegung und jede Handlung „normal“ wirken zu lassen, nein, die sieht man nicht. Wie viel Anstrengung das kostet. Aber in solchen Momenten, wenn die MS sich mal wieder statt als stille Begleiterin als lautstarke Diva meldet, da erfordert jedes Tun, ja sogar das simple Sein, bereits sehr viel Kraft.
Kraft, die ich eigentlich für meine Aufgaben, meinen Alltag, meine Freunde, Familie und natürlich auch für mich (also die Person Samira, nicht die MS-kranke Samira) brauche. Nur leider kommen diese Dinge in solchen intensiven Phasen manchmal zu kurz.
Es ist schwierig, sich das einzugestehen
Und noch schwieriger ist es, diese unsichtbaren Symptome, die Erschöpfung und Verwirrtheit in solchen Phasen zu erklären. Ich arbeite seit fünf Jahren daran und habe es immer noch nicht geschafft, als Beispiel. Denn wie erkläre ich einer Person gewisse Empfindungen, die ich selbst nicht mal einordnen kann? Oder, noch schlimmer, von denen ich mir nicht mal sicher bin, ob ich sie mir nur einbilde?
Ja, nicht nur unser Umfeld fragt manchmal, ob das wirklich MS ist. Ich selbst frage mich das ständig – wenn es hier und da zwickt, wenn etwas Altes oder etwas Neues oder Ungewöhnliches in meinem Körper vorgeht.
Ja, das ist belastend. Nein, auch diese psychische Belastung, die sieht man nicht.
Wir tragen sie still in uns, und manchmal da explodieren wir, und dann kommt alles raus. Was sich wahnsinnig gut anfühlt.

Bild: Eddy Kruse
Doch irgendwann kommt bei mir bisher immer dieser eine wunderbare Tag, an dem alles wieder wie vorher ist.
An dem ich lache, ich unbeschwert bin, ich tanzen und joggen gehe und nur so vor Energie strotze.
Dann weiß ich: Ich habe mal wieder das Tal, das unsichtbare und doch so tiefe Tal überwunden. Weil ich an mich geglaubt, nicht aufgegeben, nicht unnötig viel erklärt habe. Weil ich mich geschont, auf meinen Körper gehört habe. Weil ich ihn nicht verurteilt habe, für das, was er nicht mehr kann, sondern gelobt habe für das, was noch geht.
Ich glaube, er bedankt sich dafür.
Nein, MS sieht man nicht immer. Auch die Kämpfernatur, die in jeder einzelnen von MS betroffenen Person steckt, die sieht man nicht immer. Doch sie ist da. Sie wehrt sich gegen Schubladen, gegen Erklärungsnot und Stereotypen – und sie ist in uns allen.
Denn: Ja, echt – auch zu kämpfen ist MS.
GZDE.MS.18.04.0317
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