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Großes Herz und große Pfoten

"To sit with a dog on a hillside on a glorious afternoon, is to be back in Eden, where doing nothing was not boring – ... it was peace!"
(Milan Kundera)
Von mir für dich … es gibt jemanden an meiner Seite, länger schon als mein jetziger Mann und viel länger als meine Kinder und auch lange vor der MS. Er war bei mir, als ich mein Elternhaus verließ, gemeinsam wohnten wir in meiner ersten eigenen, winzigen Einzimmerwohnung. Ich schreibe über Ruby, meinen Australian-Shepherd-Rüden. Ein kräftiger und kluger Hund mit viel Temperament und noch mehr Köpfchen. Er war bei mir im Studium und begleitete mich sogar nicht selten in die Uni. Selbst anfangs, als er noch ein Hundebaby war, waren auch meine damaligen Kommilitonen schon bald bestens vertraut mit Ruby, dem menschenbegeisternden und freundlichen Hund mit dem „Menschenblick“. Sehen meine früheren Studienkolleg*innen heute ein Foto von ihm in den sozialen Netzwerken, sehen sie seinen ergrauten Kopf und schreiben mir: So lange ist das schon her!
Denn heute ist Ruby über 12 Jahre alt und weise. Er hat schon so vieles gesehen und erlebt. Wir sind oft umgezogen, quer durch die Republik, treu und ohne jemals eine der Entscheidungen infrage zu stellen, war er dabei. Sechsmal sind wir umgezogen in seinem Hundeleben. Er hat alles miterlebt: Hochzeit, ein Kind, das zweite – und die Krankheit. Die MS war jetzt auch noch in unser Leben getreten und stellte noch einmal alles auf den Kopf, aber gründlich.
Eine Sprache, die nur wir verstehen
Doch mein Hund sagte mir mit Blicken: „Du bist dieselbe, noch immer verstehen wir uns ohne Worte. Ein leises Schnalzen und ich bin da.“ Wir sprechen eine Sprache, die nur wir verstehen. Ein Blick, ein Nicken mit dem Kinn – und du liest meine Gedanken wie ein offenes Buch. Für dich, haariges Wesen, bin ich dieselbe, auch wenn ich für dich jetzt anders rieche durch die Medikamente. Und deine Nase ist fein, denn du bist ein ausgebildeter Rettungshund. Ein Personenspürhund, der der unsichtbaren Spur eines einzelnen Menschen quer durch ein großstädtisches Einkaufszentrum folgen kann, mit Sinnen, die uns Menschen verborgen bleiben. Ich lese deine Körpersprache und sehe, dass du den deutlichsten Hinweisschildern folgst. Und dann, wenn du ihn gefunden hast und dich vor einen mir unbekannten Menschen in einem Café setzt, mich ansiehst und dein Blick stolz sagt: „Da ist er. Das war doch ganz klar!“
So ein Talent auf vier Pfoten, mit einem saugfähigen Fell in der Not – viele Tränen haben schon ihren Platz dort gefunden. Auch nach der Diagnose MS. Als ich mich setzen musste, fassungslos, dass mir so was „passiert“ war. Und all die Gedanken durch meinen Kopf rasten, einer von ihnen auch: Was mache ich, wenn meine Beine nun eines Tages den Dienst versagen und die Touren querfeldein und über Stock und Stein, durch den Sand am Elbstrand – von heute auf morgen Geschichte sind? Ich musste auch diesen Gedanken denken, aber ehrlicherweise nicht sehr lange. Denn mein Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten ist grenzenlos. Denn du wärst nicht der erste Hund mit einem Frauchen im Rollstuhl und du bist der letzte, der an dieser Herausforderung scheitern würde. Denn für uns genügen Blicke und alles ist gesagt.
Wir gehen gemeinsam, noch immer ohne Rollstuhl. Aber wir gehen langsamer – gemeinsam. Unsere Wege sind kürzer und das Tempo gemächlicher. Denn nicht nur ich bin langsamer geworden. Du spürst, dass du älter geworden bist. Auch wenn manche sagen, dass Hunde nicht älter werden, sondern einfach immer müder. Du findest, dass das ausgiebige Schnüffeln an einem Grasbüschel inzwischen viel wichtiger ist als das Rennen in Höchstgeschwindigkeit. Es macht nichts, lass dir Zeit. Ich warte auf dich. Wir haben gemeinsam keine Eile mehr, denn wir haben schon alles gesehen. Deine braunen Augen sehen immer weniger, aber ich halte für dich Ausschau. Wenn dein trüber Blick für dich gefährlich wird, führe ich dich an der Leine bis zur sicheren Wiese.
Wir machen jetzt auch Pausen. Das gab es früher nicht. Wir nutzen heute die Parkbänke, die unseren Weg säumen. Ich setze mich darauf und du legst dich seufzend neben meine Füße. Wenn ich merke, dass die Kraft in meine Beine zurückkehrt, geht es auch für dich weiter. Dann folgen wir weiter unserem Weg, von einem interessanten Grasbüschel zu einem Maulwurfshügel und weiter zu einem kleinen Bachlauf. Wenn der flach genug ist, gehst du ein paar Schritte hinein, die Pfoten benetzen. Da bist du jetzt vorsichtig geworden. Der mutige In-die-Fluten-Springer gehört der Vergangenheit an. Aber mach dir nichts draus. Ich schaue jetzt auch genau auf jede Treppenstufe und überlege mir vor jedem Gang, wie weit meine Beine mich heute tragen.
Ich bin nicht alt, so wie du, aber unsere Gedanken und das viel vorsichtigere Leben gleichen sich genau. „Danke“, sage ich und streiche dir über den plüschigen Kopf, denn natürlich liegst du bei mir, unter meinem Schreibtisch. Wie du es schon seit zehn Milliarden Wörtern tust.

GZDE.MS.20.01.0026
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